Picknick am Valentinstag

Picnic at Hanging Rock

Peter Weir, Australien 1975

Gleich zu Beginn verrät der Film in Form einer Schrifteinblendung seine Handlung: Im Jahre 1900 verschwinden am 14. Februar, dem Valentinstag, mehrere Schülerinnen eines Internats während eines Picknicks am Hanging Rock spurlos. Der nun folgende Film ist eher eine Entfaltung des Geheimnisses um das Verschwinden der Mädchen, denn eine Lösung. Die Lösung des Rätsels liegt also weniger darin, was der Film erzählt, sondern wie er es erzählt. Nach der Schrifteinblendung sehen wir während des Vorspanns die Felsen des Hanging Rock. Dann sehen wir das Internat und hier setzt die Panflöte George Zamfirs ein. Zu ihrem hypnotischen Klang erwachen die Mädchen als seien sie vom Klang der Musik geweckt worden und als stünden sie unter ihrem Bann. Während der Morgentoilette lesen sie einander romantische Liebesverse vor. Der Vorspann und die Panflötenmusik enden mit der Einblendung des Regisseurs bei einem vielsagenden Detail: Eines der Mädchen legt eine Blume in ein Buch legt, um sie zu pressen.

Symbolstarke Bilder im Vorspann: Die Mädchen binden ihre Korsette: Einschnürung in puritanische Normen.
Die Blume wird gepresst – so wie die Mädchen eingesperrt und gedrillt werden. Das symbolträchtige Bild wird mit der Namenseinblendung des Regisseurs gewissermaßen signiert. Peter Weir nutzt den Vorspann – wie viele andere Regisseure auch – für symbolstarke Bilder, die die Idee des Films zu erkennen geben.

Das College befindet sich im südaustralischen Bundesstaat Victoria, der seinen Namen der sittenstrengen englischen Königin verdankt und der Film dürfte eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Moral darstellen, deren strikte Durchsetzung im College eines der Leitmotive der Handlung ist. Geleitet wird die Einrichtung von der rigorosen Mrs. Appleyard. Die von Rachel Roberts als personifizierte Bosheit gespielte Direktorin nötigt die höheren Töchter unter ihr lebens- und lustfeindliches Internatsregime und alle Aggressionen der Zuschauer auf sich. Ihr rücksichtsloses Beharren auf der Einhaltung puritanischer Normen bekommt vor allem das Waisenmädchen Sara, deren Vormund mit den Internatsgebühren im Rückstand ist, zu spüren. Saras einziger Trost ist die liebevolle Verbundenheit, mit der sie an ihrer Zimmergenossin Miranda hängt. Miranda, gespielt von Anne-Louise Lambert, scheint kraft ihres Liebreizes und ihrer Sanftmut eine hypnotische Autorität unter ihren Mitschülerinnen auszuüben. Der Film setzt die Figuren von Miranda und Mrs. Appleyard einander antithetisch gegenüber: Jugend und Alter, Schönheit und Hässlichkeit, Sanftmut und Unbarmherzigkeit, Versuchung und Verzicht, Neugier und Ignoranz.

Die Mädchen huldigen dem heiligen Valentin, indem sie den heidnischen Liebesgott Amor preisen.

Noch vor dem Frühstück huldigen die pubertierenden Schülerinnen dem heiligen Valentin, dem Patron der Verliebten, indem sie eine Statue des heidnischen Amor in der für die Ikonographie des Liebesgottes ungewöhnlichen Gestalt eines stattlichen Jünglings in die Höhe recken. Dann machen sie sich in Begleitung zweier Lehrerinnen auf zum Picknick am Hanging Rock und sobald sie dem Internat, dem Reich der Züchtigung entzogen werden, sobald der Kutschwagen sich entfernt, sie die Erlaubnis erhalten, sich die Handschuhe auszuziehen, entwinden sie sich langsam der Korsettierung puritanischer Normen. Miranda ist es, die die Pforte zum Hanging Rock öffnet, just als die Panflötenmusik wieder einsetzt. Sie ist es, die nach einem Toast für St. Valentin mit einem bedrohlich wirkenden Messer die Valentinstorte anschneidet. Und als im Schatten des Felsens das Picknick beginnt, versagen die Uhren als das wichtigste Reglementierungswerkzeug unserer Zivilisation, und die Zeit steht still. In einer Bestätigung nationaler Klischees ist es Mademoiselle de Poitiers, die junge französische Lehrerin, die den Mädchen die Freizügigkeit gestattet, sich auf den Gang zum Hanging Rock zu begeben. Angestiftet von Miranda, dieser sphärischen Erscheinung, machen sich die vier jungen Frauen auf den Weg, von dem zwei nicht mehr zurückkehren. Und Mademoiselle de Poitiers, die sie dorthin hat ziehen lassen, die, wie alle im Internat, Miranda verfallen ist, die eingenommen ist von ihrer Güte und ihrer entrückten Schönheit, glaubt plötzlich ihre göttliche Abkunft verstanden zu haben. Sie erkennt ihre Gestalt in einem Gemälde des Bildbandes, in dem sie blättert: „Miranda ist ein Engel von Botticelli!“ Aber was wir sehen, ist kein Engel. Es ist die Venus von Botticelli.

Miranda führt das Messer zur Torte – und später die Mädchen ins Verderben. Von der elfengleichen Miranda geht die Bedrohung aus.
Horrorsymbolik im Mysteryfilm. Miranda schneidet die Valentinstorte an.
„Miranda ist ein Engel von Botticelli!“ Aber was wir sehen, ist kein Engel. Es ist die Venus von Botticelli. Die heidnische Göttin der Erotik.

Die Mädchen wirken in ihren weißen Kleidern ein wenig wie Bräute, wenn sie durch die weichgezeichneten, harmonieheischenden, zugleich aber atmosphärisch abgründig wirkenden Bilder gleiten, verführt von der Venus gleichgesetzten Miranda, die in ihrer Mitte die sanfte Herrschaft innehat. Miranda verführt sie, sich auf diesen uralten, geheimnisvollen und auch unansehnlichen Berg zu begeben, auf dass sie in dessen bizarren, fratzenhaft hässlichen Steingesichtern verschwinden. Sogar die altjüngferliche Mathematiklehrerin Miss McCraw zieht Miranda mit sich fort; den Mädchen folgend verschwindet sie gleichfalls, was Mrs. Appleyard später nicht nur mit Unverständnis, sondern auch mit einer Schuldzuweisung kommentiert, am eigenen tragischen Schicksal mitgewirkt zu haben. Denn als erfahrene, erwachsene Frau hätte sie es verstehen müssen, auf sich aufzupassen, anstatt sich in Gefahr zu begeben, sich vergewaltigen und ermorden zu lassen. Sie sagt dies mit der ihr eigentümlichen Bosheit, die über das Verderben der Anderen intuitiv eher Häme als Mitleid, für Schwäche eher Verachtung als Sorge fühlen kann, und doch, nüchtern betrachtet, hat sie recht mit ihrem Befund. Denn was soll sonst passiert sein? Warum verschwinden zwei Mädchen und ihre Lehrerin spurlos? Zwar tut der Film tut alles, um eine mystisch-zauberhafte Atmosphäre zu erzeugen, die beim Zuschauer das Gefühl nährt, das Verschwinden der Mädchen sei Folge einer paranormalen Begebenheit. Aber als einzige rationale Erklärung bleibt nur ein Gewaltverbrechen, das, nach Maßgabe der Umstände, ein sexuelles Motiv gehabt und mit der Tötung und anschließenden Beseitigung der Opfer geendet haben dürfte. Die Vernunft lässt keinen anderen Schluss zu.

Joan Lindsay, die Autorin der Romanvorlage, hielt eine bis zur Albernheit aufgesetzte Mystery-Auflösung bereit, die den mittelmäßigen Roman weiter banalisiert, die jedoch erst in den 80er Jahren – nach ihrem Tod und lange nach der Produktion des Films – veröffentlicht wurde. Der Film, der seine literarische Vorlage bei weitem überragt, wahrt das Geheimnis, durchsetzt es allenfalls mit allerlei Andeutungen, die allesamt einen erotischen Unterton haben: Eine der Schülerinnen kehrt zurück, es ist nicht zufällig das übergewichtige, noch unreife, kindliche Mädchen. Sie hat die den Schülerinnen auf den Felsen folgende Miss McCraw gesehen und beichtet ein pikantes Details: Die Lehrerin hatte unter ihrem Rock keine Hosen mehr an. Als eines der Mädchen, Irma, gefunden wird, ist sie unversehrt, also auch nicht entjungfert, aber ihr Korsett ist verschwunden. Irma sagt, sie könne sich an nichts erinnern. Das schöne, einstmals kesse und selbstbewusste Mädchen wirkt tief verstört und traumatisiert, zur Lösung des Rätsels kann (oder will) sie nicht beitragen. Der Film entfaltet das Geheimnis nur, klärt es nicht auf.

So bleibt der Zuschauer seiner Fantasie überlassen oder seinem Verstand. Und der lässt nur eine realistische Hypothese zu: Die Frauen sind Opfer eines mutmaßlich sexuellen Gewaltverbrechens geworden. Die Tat wird in keiner Weise konkretisiert, sondern in einem Mysterium allegorisiert: Der riesige hässliche Fels hat die Frauen verschlungen. Der Fels lockt die Mädchen, betört, betäubt und verschlingt sie schließlich, auf dass sie für immer verschwinden - eine Metapher für sexuelle Verführung und Vernichtung. Und dieses Verhängnis zieht immer mehr Menschen in den Abgrund. Sara hat ohne Miranda keinen Platz im Leben; sie stürzt sich, nachdem Mrs. Appleyard sie wegen der ausstehenden Gebühren der Schule verwiesen hat, vom Dach des Colleges. Mrs. Appleyard verfällt dem Alkohol und stürzt am Hanging Rock zu Tode. Offiziell handelt es sich um einen Unfall, ihr Verhalten im Film deutet aber vielmehr auf Selbstmord. Dies bedeutet den Untergang des Appleyard Colleges. So hat der Film ein Resultat: Das komplette Zerbrechen, das totale Scheitern institutionalisierter Disziplin. Sie zerschellt an den Felsen des Hanging Rock, diesem urwüchsigen Symbol der Gewalt des Natürlichen.

Was es mit diesem Natürlichen auf sich hat, erzählt der Film in unterschwelligen Andeutungen gleich zu Anfang. Der Film zeigt ein Erwachen. Junge Mädchen erwachen zu den Klängen einer Panflöte. Die verführerische Musik des Pan – jener bocksfüßigen Triebgestalt, jenes griechischen Naturgotts, der nur urwüchsiges Verlangen kennt, der irdischer ist als jeder Mensch – hat die Mädchen geweckt. Und dieser Pan – in seiner verzerrten Mimik, seiner halbanimalischen Gestalt nicht zufällig Vorbild der christlichen Teufelsikonographie – steht für die Angriffs-Lust, für die grimassierende Geilheit sexueller (männlicher) Ekstase. Pan, so legen es Schnitt und Musik während des Vorspanns nahe, ruft aus dem Felsen, aus den Höhlen, aus den Rätseln des Hanging Rock, und die Mädchen folgen am St. Valentinstag unter Mirandas Führung mit verhängnisvoller Willigkeit. – Das Erwachen, das zu Beginn des Films gezeigt wird, ist das Erwachen des körperlichen Verlangens, der sexuellen Begierde.

Das, was uns vor Pan bewahrt, ist eben das, was uns als Menschen, zumal als zivilisierte Menschen erst sein lässt: Es ist eben nicht zuletzt die Zucht. Und diese Zucht hat der Film zum Thema, sie wird symbolisch dargestellt zu Beginn des Films, wenn eines der Mädchen Blumen – als Metapher der Natur – in ein Buch – als Metapher der Geistigkeit – legt, um sie zu pressen, mit der gleichen sorgfältigen Gewalt wie die Mädchen von der viktorianischen Disziplin des Internats eingeschnürt werden: so behutsam, so unentrinnbar. Den Mädchen wie den Blumen geschieht dies mit der gleichen Absicht: um ein dauerhaftes Bewahren ihres so gleichwohl geschmälerten, dafür aber konservierbaren Reizes zu erlangen. Denn nicht etwa das viktorianische Schreckgespenst Mrs. Appleyard wirkt unheilstiftend und verderblich unter den Mädchen, sondern die elfengleiche Miranda, die die Mädchen zur Entdeckungstour am Hanging Rock verführt, um sich als willige Opfer Pan hinzugeben.

Und hätte man die Mädchen nicht allein auf den unwegsamen Berg steigen lassen, hätte man sie nicht unbeaufsichtigt gelassen, ja hätte man sie am besten gar nicht aus dem Internat weggelassen, hätten sie nicht Opfer einer derart scheußlichen, derart monströsen Tat werden können. Dann hätten sie vor dem verschlingenden Überwältigungs- und Gewaltakt bewahrt werden können, diesem rasenden und rücksichtslosen Ausbruch des Triebhaften. Mrs. Appleyard hatte eigentlich alles richtig gemacht, trotz der abstoßenden Zeichnung ihres Charakters. Angesichts der Gefahren, die auf die Mädchen lauerten, waren die rigidesten Maßnahmen gerade die richtigen. Und was sind die Zumutungen viktorianischer Disziplin gegen die vollkommene Vernichtungsbereitschaft des Unbekannten, Lauernden, dessen Opfer die Mädchen wurden und zu dem Miranda sie verführt hatte? Die Natur ist mindestens so böse wie die lebens- und lustfeindliche Zivilisation.

Bibliographie (Auswahl)

Lindsay, Joan : Picknick am Valentinstag. Roman (Originaltitel: Picnic at Hanging Rock). Deutsch von Werner Wolf. Mit einem Nachwort von Florian F. Marzin. Ungekürzte Ausgabe. Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv), München 2004.
Rayner, Jonathan: Contemporary Australian Cinema: An Introduction. Manchester University Press 2000, S. 63–70.
Roginski, Ed: Picnic at Hanging Rock by Peter Weir. Film Quarterly, Vol. 32, No. 4, Sommer 1979, S. 22–26 (JSTOR 1211956)
Wörther, Matthias: Peter Weir: Überschreitungen des Alltags. In: Thomas Bohrmann, Werner Veith, Stephan Zöller (Hrsg.): Handbuch Theologie und Populärer Film. Band 1. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007, S. 231–242.

Abbildungsnachweis

Die Abbildungen stammen aus Picknick am Valentinstag, Australien 1975, Produktion: Patricia Lovell, Hal und Jim McElroy, A. John Graves. Regie: Peter Weir. Kamera: Russell Boyd. Drehbuch: Cliff Green. DVD Süddeutsche Zeitung Cinemathek. Copyright Picnic Productions Pty. Ltd.1975. Copyright 1998 The Classic Collection. Copyright 2005 Süddeutsche Zeitung GmbH.

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