Moonlight

Moonlight

Barry Jenkins, USA 2016

Eine der Schlüsselszenen im Film ist das Baden der Hauptfigur, des kleinen Chiron, mit seinem väterlichen Freund Juan im Meer. Diese Szene wurde von Kritikern, aber auch von Regisseur Barry Jenkins als Taufe beschrieben. In der Taufe erhält man seinen Namen. Und die Namen der Hauptperson sind im Film von herausragender Bedeutung. Mit ihnen sind die drei Kapitel überschrieben, in die der Film eingeteilt ist: Little, Chiron und Black. Es handelt sich jeweils um dieselbe Figur, die von Kapitel zu Kapitel ihren Namen wechselt, was andeutet, dass diese Figur offenbar eine tiefgreifende, persönlichkeitsverändernde Entwicklung durchläuft.

Der Film beginnt zu den programmatischen Klängen von Boris Gardiners Every Nigger Is a Star. Damit ist das Thema gesetzt: Es geht um Black Empowerment. Powerful ist die Erscheinung des Niggers, der zum Refrain aus seiner aufgemotzten Karre steigt, in deren Windschutzscheibe eine Krone steht: Juan der Pusher kontrolliert seinen Straßendealer. In einem leerstehenden Haus in einem Schwarzenghetto von Miami findet er zufällig einen kleinen Jungen. Gedemütigt, gejagt, geschlagen hat er sich dort vor seinen gleichaltrigen Peinigern versteckt. Juan hat Mitleid mit dem Jungen und nimmt ihn mit zu sich und seiner Freundin Teresa nach Hause. Allmählich gewinnen sie sein Vertrauen und geben dem Jungen die Zuwendung, die er von seiner drogensüchtigen Mutter nie erhalten hat. Der erste Satz, den der verstockte Junge schließlich sagt, lautet: „Ich heiße Chiron, aber alle nennen mich Little.“ Das 9-jährige Mobbingopfer erfährt so von klein auf seinen Stellenwert: Einer, der wenig gilt, der wenig darstellt, der wenig ist. Juan fährt mit Chiron zum Strand und bringt ihm das Schwimmen bei. Er zeigt ihm, dass er nicht untergehen muss in dieser Welt. Das Ereignis hat den sakralen Charakter einer Taufe. Juan (Johannes der Täufer) vermittelt Little das erste Mal das Gefühl, das er auf dieser Welt erwünscht und willkommen ist. Und gemeint ist damit nicht nur der kleine Junge allein, sondern seine Ethnie. Denn Juan sagt direkt danach die programmatischen Worte: „Schwarze Menschen gibt es überall. Vergiss das nie!“ Dieser Monolog von Juan fasst die Aussage des Films zusammen, ihm entstammt auch der Titel. Denn Juan fährt fort: „In moonlight black boys look blue.“ Blue im Sinne von `blau´, aber auch im Sinne von `traurig´. Danach sagt Juan den bedeutungsschweren Satz: „An einem bestimmten Punkt musst du dich entscheiden, wer du sein willst.“ Chiron sieht ihn an. Später wird er sich entscheiden, ein Schwarzer wie Juan zu sein. Doch Juan ist ein Dealer und Chirons drogensüchtige Mutter ist eine seiner Kundinnen. Genau der, von dem Chiron sich Rettung erhofft, ist gleichzeitig der, der für sein Leid mitverantwortlich ist.

Das zweite Kapitel ist mit `Chiron´ überschrieben. Chiron oder Cheiron ist in der griechischen Mythologie einer der Kentauren. Ein Mischwesen, keiner Sphäre wirklich zugehörig. Als Sohn des Kronos göttlicher Abkunft, aber zur Hälfte von animalischer Gestalt. Die Animalisierung der menschlichen Existenz in den Schwarzenghettos zu kennzeichnen, dürfte der Sinn der Namensgebung sein: Die Reduzierung des menschlichen Erlebens auf Gewalt, Sex und Drogen in einer Umgebung, in der wie in der Tierwelt das Recht des Stärkeren gilt. Das kriegt Chiron, sieben Jahre gealtert auf der Highschool, jeden Tag zu spüren. Immer noch ein Außenseiter, dünn und ungelenk, wird er rücksichtslos schikaniert. Nirgendwo findet er, der immer herumgeschubst wird, Halt: Die Drogenabhängigkeit seiner Mutter hat sich verstärkt; sein Ersatzvater Juan ist inzwischen gestorben. Der einzige Junge auf der Schule, mit dem Chiron ansatzweise so etwas wie Freundschaft verbindet, ist Kevin, der wegen seiner Stärke und seines Erfolgs bei Mädchen Anerkennung genießt. Während andere Jungen Chiron als Schwuchtel beschimpfen oder ihn immer noch Little rufen, nennt Kevin ihn Black. Als sie sich nachts zufällig am Strand treffen und einen Joint rauchen, kommt es zu Zärtlichkeiten und schließlich zu zaghaftem Sex. Schoolbully Terrel versucht fortwährend, Chiron zu demütigen. In seinem Sadismus stiftet er ausgerechnet Kevin an, Chiron zu verprügeln. Kevin muss sich entscheiden, zu wem er gehören will und er entscheidet sich gegen Chiron. Dieser wehrt sich nicht, steht aber nach jedem Schlag wieder auf. Er will es Kevin nicht leicht machen, der ihn daraufhin immer wieder niederschlägt. Nach seiner Mutter und Juan ist Kevin nun der nächste, zu dem Chiron Zuneigung gefasst hat und der ihn wiederum bitter enttäuscht. Chiron rächt sich dafür an Terrel. Am nächsten Tag marschiert er Türen schlagend in die Schule und drischt Terrel mit einem Stuhl nieder. Anschließend wird er von der Polizei abgeführt.

Chiron ist das typische Opfer.

Das dritte Kapitel heißt `Black´. Nach seiner Entlassung aus der Jugendstrafanstalt lebt Chiron in Atlanta, einer der US-amerikanischen Großstädte mit dem höchsten afroamerikanischen Bevölkerungsanteil. Auch sonst ist er in seiner Erscheinung nun repräsentativ für seine Ethnie in Amerika: Aus dem dünnen schüchternen Jungen ist ein muskelbepackter Dealer geworden, mit protzigem Auto und goldenen Grills an den Zähnen. Ebenso wie früher Juan hat er eine Krone auf dem Armaturenbrett. Ebenso wie Juan trägt er eine Waffe; bei einem Deal zückt er sie, bereit zu schießen. Zum Spaß schikaniert er seinen Straßendealer, der für ihn arbeitet. Um ihn abzuhärten und um ihm und sich seine Dominanz zu beweisen. Doch in seinen Alpträumen wird er immer noch von seiner Mutter angeschrien. Sie ist ebenfalls in Atlanta, in einer Einrichtung für ehemalige Drogenabhängige. Sie versucht Black dazu zu bringen, über seine Gefühle zu reden, doch das ist ihm nicht möglich. Eines Nachts erhält er einen Anruf von Kevin. Er arbeitet in einem Diner in Miami, hat einen Sohn, ist frisch geschieden. Eines Abends besucht Chiron spontan den Diner, in dem Kevin arbeitet, der ihn zunächst nicht erkennt, weil er sich so verändert hat. Anschließend fahren sie zu Kevin nach Hause. Chiron ist immer noch verlegen, wenn es darum geht, sich zu offenbaren. Als Kevin ihm er erzählt, dass er trotz geplatzter Träume ein zufriedenes Leben führt, gesteht Chiron, dass Kevin der einzige Mensch ist, der ihn je berührt hat.

Black der Dealer. Ein muskelbepackter Macho...
...mit einschüchternder Körpersprache.

Der Film und seine literarische Vorlage tragen autobiographische Züge. Der gewaltbereite Terrel teilt seinen Vornamen mit Tarrel Alvin McCraney, dem Autoren des dem Film zugrundeliegenden Theaterstücks In Moonlight Black Boys Look Blue. Es gibt zudem Parallelen von McCraney mit der Hauptperson. McCraney ist schwul, seine Mutter war drogensüchtig und hatte eine Beziehung mit einem Drogendealer, der McCraney zum väterlichen Freund wurde. Sowohl Tarrel Alvin McCraney als auch Barry Jenkins sind in Miami in dem Stadtviertel Liberty City geboren und aufgewachsen, in dem zu 95 Prozent Schwarze wohnen. In diesem Viertel wurde der Film auch in Teilen gedreht. Zwischen dem Leben der Autoren und dem Film gibt es so auffallend viele Übereinstimmungen, dass der Blick zwangsläufig auf jene Passagen gelenkt wird, in denen sich die Handlung des Films vom Leben seiner Schöpfer entfernt. Der homosexuelle McCraney wurde eben ein Künstler und Intellektueller, nicht etwa ein muskelbepackter Drogendealer. Und genau diese bemerkenswerte Abweichung von der biographischen Blaupause führt zu einer Schwäche in der Skizzierung der Hauptfigur. Diese Schwäche lohnt es sich genauer anzusehen, denn sie führt zur Kernaussage des Films.

Die Charakterzeichnung des Helden ist wenig realistisch. Die Metamorphose von Chiron zu Black ist nicht glaubwürdig. Sowohl Little als auch Chiron werden als klassische Außenseiter gekennzeichnet, die jahrelang als Zielscheibe für gewalttätige Übergriffe der Stärkeren herhalten müssen; typische Opfer, von den eigenen Eltern vernachlässigt, von den Gleichaltrigen gedemütigt. Als Erwachsener ist Chiron, der immer herumgeschubst wurde, auf einmal ein erfolgreicher Dealer: risikofreudig, durchsetzungsstark und gewaltbereit. Nichts davon ist in Chirons Charakter bis dahin angelegt. Es ist zwar nicht unüblich, dass Menschen, die bis in ihre fortgeschrittene Jugend gedemütigt wurden, später ihrerseits mit Gewalt reagieren, aber üblicherweise eher versteckt. Dass jemand, der auf der Highschool immer noch herumgeschubst wurde, im Erwachsenenalter dominant auftritt und sich nichts mehr gefallen lässt, ist eher untypisch. Die Verwandlung in den machistischen Black erscheint von daher in der psychologischen Entwicklung nicht schlüssig. Tatsächlich wäre die antithetische Figur des Films, der rücksichtslose Terrel, viel glaubwürdiger in der späteren Erscheinung als Berufskrimineller. Der Film unterstreicht diesen Bruch in der Entwicklung der Hauptfigur noch, indem für alle drei Kapitel verschiedene Darsteller gewählt sind, die überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander aufweisen, sondern sich in Physiognomie und Statur so stark unterscheiden, dass es nicht dieselbe Person sein kann. Zusätzlich ist für jedes Kapitel sogar unterschiedliches Filmmaterial verwendet worden, so dass der optische Gesamteindruck jeweils ein völlig anderer ist. Tatsächlich stehen die drei Teile so unverbunden nebeneinander, dass sie als drei eigenständige Kurzfilme funktionieren würden. Dass Jenkins und McCraney alle drei Episoden in einen Film und alle drei Geschichten – trotz aller offensichtlichen Unstimmigkeiten – in die Biographie ein und derselben Person zwingen, wirkt so, als wollten sie sagen: Schaut her, das eine hat etwas mit dem anderen zu tun. Aber in welcher Weise?

Insofern die Metamorphose des schüchternen Losers Chiron in einen muskelüberfrachteten Dealer unglaubwürdig ist, muss man sie wohl eher symbolisch verstehen. Und auf der Symbolebene geht es weniger um einen konkreten Menschen als vielmehr um die Situation der Schwarzen in den USA generell. Ihre Lebenswirklichkeit ist zutiefst von Gewalt und Drogen gekennzeichnet. Die gesamte Kindheit und Jugend von Little bzw. Chiron ist davon geprägt, obwohl er selbst kaum Drogen nimmt und niemals gewalttätig wird. Aber er kann sich den Auswirkungen nicht entziehen. Seine Mutter, sein Ersatzvater Juan, seine Schulkameraden: Überall wird er mit Drogensucht und Gewaltlust konfrontiert – es prägt sein Leben, es zerstört seine Seele. Und diese Allgegenwart von Drogen und Gewalt bringt Charaktere wie Black, den Dealer, hervor. Somit ist sowohl die Charakterisierung der Hauptfigur in den jeweiligen Kapiteln als auch die Betitelung der Kapitel stellvertretend für die Black Community zu verstehen: Bereits im Kindesalter lernen sie, dass sie wenig (little) wert sind, als Jugendliche erleben sie ihre Umwelt (im Vergleich zu den Wohnvierteln der weißen Mehrheitsbevölkerung) als unzivilisiert und somit sich selbst als rohe, unfertige Wesen (Cheiron); das Resultat ist der Gangster, das Klischee des Schwarzen (Black) in den USA.

Moonlight wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, darunter auch mit drei Oscars, unter anderem für den besten Film. Äußerst ungewöhnlich bei einer Low-Budget-Produktion, erst recht über schwule Schwarze. Tatsächlich war es der erste Film überhaupt, der sich der Schwulenthematik widmet, der solcherart bei einer Oscarverleihung prämiert wurde. Ein wesentlicher Grund, dass die ansonsten eher dem Mainstream verpflichtete Academy einen politischen Film über Randgruppen mit höchsten Ehren bedachte, dürfte in der politischen Situation der Vereinigten Staaten liegen. Nur drei Monate vor der Oscarverleihung wurde Donald Trump zum Präsidenten gewählt. Ein Schock für das eher liberale Hollywood. Die vielfache Auszeichnung von Moonlight – ein Film, der sich mit der schwierigen Situation von Schwarzen und Homosexuellen befasst – dürfte wohl als politisches Statement des liberalen Hollywoods gewertet werden. Man kann vermuten, dass der Film ohne die indirekte Wahlkampfhilfe Donald Trumps bei der Oscarverleihung weniger erfolgreich abgeschnitten hätte.

Abbildungsnachweis

Die Abbildungen stammen aus Moonlight, USA 2016, Produktion: Adele Romanski, Dede Gardner, Jeremy Kleiner. Regie: Barry Jenkins. Kamera: James Laxton. Drehbuch: Barry Jenkins, Tarell Alvin McCraney. Copyright 2017 DCM Film Distribution GmbH, Schönhauser Allee 8, 10119 Berlin. Universum Film.

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