Drive

Drive

Nicolas Winding Refn, USA 2011

Drive ist die perfekte Inszenierung. Der Film ist die grandios gelungene Kombination von Gegensätzen. Mädchenhafte Grafik, klischeeüberfrachtete Handlung, eingängige Technosounds, haarsträubende Action, brutale Gewalt und sozialen Realismus vereint Nicolas Winding Refn auf organische Weise zu einem düsteren Märchen mit bösem Ausgang. Ein Neo-Noir-Film, der aus der Symbiose antagonistischer Stilmittel seine besondere Aura entfaltet, die sich mit einem Wort zusammenfassen lässt: Coolness. Genau diese Wirkung wollte Winding Refn erzielen, genau das hat er geschafft. Sofort hat der Film sein Publikum fasziniert und sich eingebrannt in das kollektive Gedächtnis der Popkultur, das seine Stilmittel erinnert, zitiert und somit bewahrt. Die rosafarbene Schrift in Vor- und Abspann, der wortkarge Held ohne Namen, die peinliche Skorpionjacke, die Synthiepop-Ohrwürmer, die Verfolgungsjagd im Vorspann, die erschütternden Gewaltszenen: Alles wird sofort ikonisch, alles gewinnt sofort Kultpotenzial. Der Film selbst ist eine geschickte Bezugnahme auf Leinwandheroen, indem er den Topos des einsamen Rächers, einer ikonischen Figur des Kinos, einerseits zelebriert und andererseits vermenschlicht und somit dekonstruiert. Dass es Winding Refn gelungen ist, seinen Film schlagartig in den popkulturellen Kanon zu katapultieren, liegt nicht zuletzt an seiner intelligenten Bezugnahme auf diesen. Ohne es in den Vordergrund zu rücken, spielt der Film mit populärkulturellen Topoi. Dieses Spiel und die daraus resultierende Stimmung ist sein Anliegen. Die Story ist ihm dabei nur Vorwand.

Eine Story zum Vergessen, von vorne bis hinten konstruiert und unglaubwürdig. Doch der Film leidet darunter keineswegs. Sein Bezugspunkt ist nicht die Wirklichkeit, sondern das Kino. Der Film funktioniert vor dem Hintergrundwissen um das Genre des Action-Kinos. Das Publikum vergleicht den Fahrer intuitiv nicht mit echten Menschen, sondern mit Helden – Kinohelden. Seine holzschnittartige Figur hat man so schon unzählige Male im Film gesehen. Lakonisch, mutig, mit herausragenden Fähigkeiten gesegnet, aus allen Kämpfen als Sieger hervorgehend: der einsame Rächer ist ein Topos. Ryan Goslings Perfomance knüpft an Alain Delon, Clint Eastwood, Franco Nero, Charles Bronson, Sylvester Stallone, Chuck Norris und viele weitere Heldenverkörperungen an. Eine unendlich lange Liste von immer zahlreicheren und immer belangloseren Versionen dieser Charakterschablone; beliebt vor allem bei jungen männlichen Zuschauern, die ihre altersbedingte libidinöse Unterversorgung durch Rache-, Gewalt- und Überlegenheitsphantasien kompensieren. Diese Kompensation macht Kasse im Kino, denn sie wirkt verlässlich. Sie wirkt nicht zuletzt deshalb, weil der Bewunderer dieses Heldentypus nicht nur in seinen Tagträumen, sondern auch im wirklichen Leben etwas mit seinem Idol gemein hat. Nämlich die Schweigsamkeit und die emotionale Zurückhaltung. Diese jungen Männer sind in der Regel schüchtern und verlegen und das finden sie auch in ihrem Filmhelden wieder, nur dass dieses Verhaltensdefizit auf der Leinwand in eine Attitüde verwandelt wird, eine Eigenschaft, die gepaart mit der körperlichen Überlegenheit nicht mehr zwanghaft, sondern gewählt und gewollt erscheint und somit den Zuschauer mit sich selbst versöhnt. Ryan Gosling variiert unter der Regie von Nicolas Winding Refn diesen Topos und gewinnt ihm eine neue Dimension ab. Gleiches gilt für den gesamten Film. Drive paraphrasiert ein viel gesehenes Storytelling-Muster, das vor allem in minderwertigen B-Pictures beliebt ist: Drive ist die Arthouse-Variante von The Fast and The Furious.

Der Film beginnt mit einem Prolog, der dem Vorspann vorangestellt ist. Drei Schrifttafeln, rosa Schreibschrift auf schwarzem Grund. Die letzte Tafel: A Nicolas Winding Refn Film. Dann sieht man den Fahrer in einer schmucklosen Wohnung. Am Telefon diktiert er seine Bedingungen. Er beteiligt sich nicht am Überfall, er wartet draußen im Wagen für fünf Minuten, er hat keine Waffe. Anschließend sehen wir ihn bei der Arbeit. Er trägt eine silbrige Blousonjacke, der goldene Skorpion auf dem Rücken deutet seine Gefährlichkeit an, der Zahnstocher im Mund seine Abgeklärtheit – eine Karikatur der Coolness. Der Fahrer hört den Polizeifunk ab, er hat einen Fluchtplan. Ohne ein Wort zu sprechen, ohne ein Zeichen von Nervosität rast er durch die Straßen von Los Angeles, schüttelt Streifenwagen und Hubschrauber ab, bis er den Wagen samt Einbrechern sicher in einem vollen Parkhaus abstellt, in dem gerade eine Sportveranstaltung zu Ende ist. Der Fahrer tarnt sich als Sportfan und verschwindet in der Nacht. Dann der Vorspann. Rosa Schrift zu Kavinskys Night Call. Rosafarbene Schrift hatte Winding Refn bereits in Walhalla Rising, seinem Vorgängerfilm über einen Helden, der ebenfalls nicht spricht und sich in zahlreichen Kämpfen bewähren muss, verwendet. Dort erscheint die Schrift als antagonistische Manieriertheit angesichts der düsteren Stimmung und der verstörenden Brutalität dieses Wikinger-Gemetzels. Bei Drive hingegen fügt sich dieses süßliche Element in die ansonsten von einsamer Männlichkeit geprägte heroische Tristesse. Drive ist im Gegensatz zu vielen Vorgängerfilmen Winding Refns glatter im Look, dekorativer in der Ausstattung und Bildkomposition. Sein erster Film, der im Gesamteindruck stylish wirkt. Das Metall der Karosserie und das Glas der Windschutzscheibe reflektieren die Lichter der Stadt; das Hell und das Dunkel gleiten über das ausdruckslose Gesicht des Fahrers: alles prallt an der Hülle ab, Mensch und Maschine sind undurchdringlich. Die Interieurs sind kühl und sparsam arrangiert wie bei Edward Hopper, kahle Wände, kaum Mobiliar: der Einrichtungsstil weckt Anmutungen an die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts, ein Noir-Zitat. Doch diese Kargheit ist in mildes, weiches Licht getaucht, warme Brauntöne überwiegen, was die Szenerie noch melancholischer macht. Die Darsteller, die sich durch diese bildgewordene Tristesse bewegen, sind ständig untersichtig gefilmt, was den Figuren etwas Riesenhaftes, Heroisches verleiht.

Skorpionjacke, knöchelfreie Handschuhe, Zahnstocher im Mundwinkel – der Held und seine Accessoires: Eine Karikatur der Coolness; als mache der Regisseur sich über seine Hauptfigur lustig.

Der Fahrer hat nur einen Freund. Shannon, deutlich älter als er und Besitzer der Werkstatt, in der er arbeitet. Shannon kennt dasTalent des Fahrers und plant, ein Rennteam zu gründen. Dazu leiht er sich 300.000 Dollar von dem Gangster Bernie Rose, um ein Stockcar zu kaufen. Währenddessen lernt der Fahrer seine Nachbarin Irene kennen, deren Mann Standard im Gefängnis sitzt, so dass sie sich die meiste Zeit allein um den kleinen Sohn Benicio kümmern muss. Sie kommen sich immer näher, was sich auch nicht ändert, als Standard aus dem Gefängnis entlassen wird. Die Liebesgeschichte ist eine Zutat des Drehbuchs, in der Roman-Vorlage bleibt es bei einer Freundschaft. Dass die Rolle der Latina Irene mit der blonden Carey Mulligan besetzt wurde, dürfte daran liegen, dass Mulligan mit ihren kurzen Haaren und der Stupsnase die Anmutung eines kleinen Kindes hat: sie erweckt den Beschützerinstinkt. Und sie zu beschützen wird das alles beherrschende Ziel des Fahrers und ist der eigentliche Ausgangspunkt der sich nun entfaltenden Story. Der Fahrer findet ihren Mann Standard, der von dem Gangster Cook zusammengeschlagen wurde, weil er diesem Geld schuldet. Standard erzählt, dass Cook ihm droht, sich an Irene und Benicio zu vergreifen, wenn er sich nicht bereit erklärt, ein Pfandhaus auszurauben. Der Fahrer will Standard helfen und steigt bei dem Raubüberfall als Fluchtfahrer ein. Cook ist einverstanden, bestimmt aber, dass die rothaarige Blanche ebenfalls mit dabei ist.

In der Roman-Vorlage eigentlich eine Latina. Im Film blond mit Kurzhaarschnitt. Carey Mulligan als Irene weckt mit ihrer kindlichen Ausstrahlung den Beschützerinstinkt.

Während des Überfalls taucht eine graue Limousine mit verdunkelten Scheiben auf. Blanche erreicht mit der Beute das Auto. Als Standard folgt, wird er von hinten erschossen. Kaum dass sie losfahren, werden sie von der grauen Limousine verfolgt. Dank waghalsiger Manöver können sie entkommen und verstecken sich in einem Motel. Tapete und Lichtstimmung ähneln der Wohnung von Irene. Dort entdecken sie, dass sie eine Million Doller erbeutet haben, viel zu viel für ein gewöhnliches Pfandhaus. Der Fahrer misstraut Blanche und verdächtigt sie, mit den Verfolgern unter einer Decke zu stecken. Unter Gewaltandrohung gibt sie zu, dass Cook ihnen das Geld abjagen wollte. Wenig später dringen zwei bewaffnete Männer in das Appartement ein und erschießen Blanche, doch der Fahrer kann sie überwältigen. Dem einen rammt er eine Gardinenstange in den Hals, den anderen erschießt er mit einer Schrotflinte. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Über das Erlebte spricht der Fahrer mit Shannon, seinem einzigen Freund. Dieser erzählt es ausgerechnet Bernie Rose, Freund und Geschäftspartner von Nino, dem eigentlichen Drahtzieher des Überfalls. Dass erfährt der Fahrer erst, als er Cook in dessen Stripclub aufsucht und ihm mit einem Hammer die linke Hand zertrümmert, um ihm zum Reden zu bringen. Währenddessen sitzen die Stripperinnen reglos daneben. Nackt und unbeteiligt wie Schaufensterpuppen. Eine typische Szene für das Nebeneinander von kühler, stilisierter Eleganz und entfesselter Brutalität, was zur ambivalenten Spannung des Films beiträgt.

Die Tapeten in Irenes Wohnung und im Motel sind fast identisch: Die Liebe zu Irene ist verantwortlich dafür, dass der Fahrer an diesen Ort des Schreckens geraten ist.
Die Stripperinnen sitzen da wie Schaufensterpuppen, während ihr Boss gefoltert wird. Die surreale Atmosphäre nimmt der Brutalität ihren Schrecken.

Nino setzt seine Killer auf den Fahrer und auf Irene an. Unter dem Jackett eines Mannes entdeckt der Fahrer in der berühmten Fahrstuhlszene eine Waffe. Er beißt kurz die Zähne zusammen, die Muskeln unterhalb des Jochbeins zucken einmal, dann küsst er Irene. In diesem Kuss entlädt sich die Spannung und die Sehnsucht, die die ganze Zeit zwischen beiden zu spüren war. Die Szene ist wirklichkeitsentrückt, in Zeitlupe mit Veränderung der Lichtstimmung und Musikeinsatz. Der Kuss dient dazu, den Killer abzulenken. Zugleich ist es ein Abschiedskuss, denn was nun folgt, trennt Irene und den Fahrer für immer. Plötzlich greift er den Killer an, zwingt ihn zu Boden und tritt dann völlig enthemmt auf ihn ein, bis dessen Schädel zertrümmert ist. Irene sieht den Fahrer, der gerade ihr Leben gerettet hat, entsetzt an, stolpert rückwärts aus dem Fahrstuhl, dessen Tür sich wieder schließt als Zeichen der Trennung. Das Geld aus dem Überfall gehört der Ostküstenmafia, die es in dem Pfandhaus deponiert hatte, wo Nino es ihnen abjagen wollte. Aus Angst vor der Reaktion der Mafia, beschließen Nino und sein Partner Bernie Rose, alle Mitwisser des Überfalls umzubringen und sich das Geld zurückzuholen. Bernie tötet Cook; erst sticht er ihm eine Gabel ins Auge, dann zeigt die Kamera, wie er ihm dreimal ein Messer in den Hals rammt. Auch der Mitwisser Shannon wird von Bernie Rose mit einem Rasiermesser ermordet. Die blutigen Szenen kennzeichnen die Gangster als extrem grausam und zu allem entschlossen.

Um Irene und Benicio vor diesen grausamen Schlächtern zu beschützen, verwandelt der Fahrer sich in ein monströses Phantom. Er setzt sich eine Maske auf, die er bei Filmstunts getragen hat. Das den ganze Film über reglose Gesicht des Fahrers erstarrt nun vollends zur Groteske. Er verfolgt Nino in dessen Auto und rammt ihn von der Straße, das Auto stürzt von einer Klippe am Ufer des Pazifiks. Der verletzte Nino sieht den Mann mit der Maske auf sich zukommen – eine Szene, wie aus einem Horrorfilm. Nino wird gespielt von Ron Perlman, der auch ohne Maske etwas Monströses an sich hat und damals mit seiner Hauptrolle in zwei Hellboy-Verfilmungen auf dem Karrierehöhepunkt war. Und dieser Nino, dieser hartgesottene brutale Gangster ist wehrlos wie ein Kind, als der Fahrer ihn im Ozean ertränkt. Der Fahrer telefoniert mit Irene und erzählt ihr, dass er die Stadt verlassen müsse. Er sagt ihr, dass seine Begegnung mit Irene und ihrem Sohn Benicio die schönste Zeit in seinem Leben gewesen sei. In diesem Geständnis offenbart sich die ganze Tristesse seiner mutmaßlich pathologischen Existenz. Der schüchterne Flirt mit der Nachbarin und die angedeutete familiäre Geborgenheit bei den wenigen gemeinsamen Unternehmungen mit ihr und ihrem Sohn sind der Gefühlsgipfel in diesem anscheinend komplett trostlosen Leben. Der Zuschauer lernt, diesen Held nicht etwa zu bewundern, sondern zu bedauern in seiner tiefen Einsamkeit und emotionalen Zurückhaltung: Er hat nichts zu verlieren, außer seiner Liebe zu einer flüchtigen Bekanntschaft. Um Letztere zu retten, trifft er sich mit Bernie in einem Restaurant, der ihm als Gegenleistung für das Geld die Sicherheit von Irene und ihrem Sohn garantiert. Für die Sicherheit des Fahrers könne er nicht garantieren. Bei der anschließenden Geldübergabe auf dem Parkplatz sticht er dem Fahrer in den Bauch, der ihm daraufhin mit einem Messer die Kehle durchschneidet. Der Fahrer sitzt reglos im Wagen, was den Eindruck erweckt, die Verletzung sei tödlich. Dann fährt er davon, das Geld lässt er bei dem toten Bernie zurück – der Fahrer hat keine Verwendung dafür, für ihn ist alles zu Ende. Irene klopft an die Tür seiner leeren Wohnung, während der Fahrer zu den Klängen von `A Real Hero´ von Electric Youth allein in die Nacht fährt.

Vom Beschützer zum Rächer zum Monster. Der Actionheld als psychopathischer Killer.

Winding Refn hat die Rache des Fahrers als Amoklauf inszeniert. Ryan Gosling spielt den Helden als verstockten Einzelgänger, als tickende Zeitbombe, der im Beschützen von Irene und deren Sohn ein Ventil für die in ihm schlummernde Gewaltlust gefunden hat: Der einsame Rächer als Psychopath. Hier schimmert ein wenig Wirklichkeit in die stereotypen Erzählmuster des Actiongenres hinein. Wenn ein Mann sich im wirklichen Leben wie ein Actionheld des Kinos verhielte und (aus gerechten Motiven heraus) einen Menschen nach dem anderen umbringt, würde man ihn für einen psychisch gestörten Gewalttäter halten. Und genau dieser Realismus mischt sich durch Ryan Goslings Performance in die Psychologie des Fahrers, den er als gefühlsverkrüppelten Gewaltjunkie schildert. Der Fahrer spricht fast gar nicht, sein Lächeln ist verlegen, das Minenspiel ist auf ein Minimum reduziert, Erregung beschränkt sich auf ein kurzes Zähne zusammenbeißen: Ryan Goslings zurückhaltende Körpersprache suggeriert weniger Coolness als Schüchternheit. Die Ambivalenz der Hauptfigur bringt der Film-Song A Real Hero aus dem überaus erfolgreichen Soundtrack von Drive auf den Begriff: „A real human being and a real hero“. – Man stelle sich den einsamen Rächer als echten Menschen vor. Das Ergebnis sieht man in Drive und schaudert. Damit hebt sich der Film ab von banalen Action-Blockbustern wie auch von seinem direkten Vorbild The Driver, den Walter Hill 1978 mit Ryan O'Neal in der Hauptrolle inszeniert hat. Der Ausgangspunkt der Handlung ist fast identisch, auch die Titelfigur von The Driver ist ein Fluchtwagenfahrer, auch hier hat keiner der Charaktere einen Namen, auch spielen viele der Szenen nachts, und der Held wohnt ebenfalls in billigen Absteigen und besitzt kaum Dinge, die ihm wertvoll sind. Doch Ryan O'Neal bewahrt seine überlegene Lässigkeit bis zum Schluss, seine Figur gibt sich keine Blöße, bleibt ein Klischee. Der Fahrer in Drive bildet eine Schnittmenge aus dem coolen Cowboy in The Driver und dem Psychotiker in Taxi Driver. Die beiden 70er-Jahre-Klassiker und ihre jeweiligen Hauptfiguren bilden die Bezugspunkte, an denen Winding Refn sich in der Konzeption von Film und Hauptcharakter orientiert hat.

Vordergründig erscheint Drive, als wolle der Film das Klischee des wortkargen Beschützers ironisch erzählen – die Skorpionjacke, der Zahnstocher im Mundwinkel, die knöchelfreien Handschuhe –, als mache der Regisseur sich über seinen Helden lustig. Aber diese Ironie vertreibt Winding Refn durch die Hinwendung zum Realismus. Seine Idee, den Topos des schweigsamen Beschützers mit sozialpsychologischer Realität aufzufüllen, entspringt zum einen seiner Gewalt-Faszination wie auch seinem Hang zum Realismus. Bereits in Dänemark produzierte Winding Refn gewalttätige Genrefilme, erzählt als sozialrealistische Milieustudien, wodurch die harte Action eine beim Zusehen fast schmerzhafte Glaubwürdigkeit erlangt. In Drive findet sich beides wieder: Sowohl Winding Refns Faible für Gewalt wie auch der von ihm bevorzugte Realismus. Die Schilderung des Milieus, in dem der Fahrer und Irene sich begegnen, hat nichts Glamouröses an sich. Im Unterschied zur literarischen Vorlage arbeitet der Fahrer zusätzlich zu seinen Stuntman-Jobs als Mechaniker in einer Werkstatt; sie arbeitet als Bedienung in einem Diner, beide leben in schmucklosen Wohnungen. Dieser Realismus beschränkt sich nicht nur auf die Schilderung des sozialen Ambientes, sondern macht sich auch in der Wahl der Darsteller bemerkbar. Carey Mulligan und Ryan Gosling sind beide keine klassischen Schönheiten, wodurch das Setting, obwohl ein klassischer Genrefilm, an Glaubwürdigkeit gewinnt.

Ryan Gosling hat Winding Refn als Regisseur ins Spiel gebracht, weil er dessen Gangsterfilme mochte, die er in Dänemark gedreht hatte. Drive ist der einzige Film von Winding Refn, dessen Drehbuch er nicht selbst verfasst hat. Dass man ihn mit der Verfilmung der Roman-Vorlage von James Sallis beauftragt hat, die nichts weiter ist als eine oberflächliche Action-Blaupause ist, dürfte mit der Gewalttätigkeit der Handlung und des Helden zu tun haben. Im Buch ist die Gewaltneigung des Helden mit dessen kaputter Kindheit erklärt; der Vater kriminell, die Mutter psychisch krank, wächst er nach traumatischen Erlebnissen bei gleichgültigen Pflegeeltern auf und wird später selbst kriminell. Als er in den Konflikt mit den Gangstern hineinschlittert, gelingt es ihm, diese zu überlisten und einen nach dem anderen umzubringen und selbst mit dem Leben davonzukommen. Der Film übernimmt das Setting des kriminellen Stuntfahrers, lässt aber dessen Kindheitserlebnisse weg, wodurch die Gewaltbereitschaft des Helden umso unvermittelter wirkt. Gleichzeitig fügt er die Liebesgeschichte hinzu, die in starkem Kontrast zur Brutalität des Helden steht und diese dadurch noch verstörender wirken lässt. Die Liebe scheitert, der Held ist am Ende tödlich verwundet: ein Actionreißer als Film Noir.

Doch ist es nur die Dekonstruktion des Helden-Topos, die den Film so erfolgreich gemacht hat? Bei Publikum und Kritik wurde die besondere Stimmung des Films hervorgehoben. Um fast alle Actionhelden versucht die Regie eine Aura der Coolness zu inszenieren, die der Zuschauer zumeist als billiges Kalkül durchschaut und sich unbeeindruckt zeigt. Warum lässt sich der Zuschauer von Drive durch den namenlosen Fahrer berühren? Dem Fahrer ist nichts wichtig, ehe er Irene trifft. Er lässt sich treiben. Eine Stimmung ähnlich dem Cruisen, dem ziellosen Umherfahren. Dieses ziellose Unterwegssein, das im Fahren seine Metapher findet, bringt eine Stimmung zum Ausdruck, aus der der Film seine Wirkung bezieht. Die Ziellosigkeit, das Niemals-wirklich-Ankommen rührt an die Befindlichkeit der Zuschauer, an die Befindlichkeit jener Kino-Generation, die den Film beim Erscheinen begeistert aufgenommen hat. Der Held hat keinen Namen, er hat kein festes Zuhause, er lebt in der Großstadt, er ist beständig unterwegs, er ist beziehungsgestört, er ist einsam, er kann nur oberflächliche Bindungen eingehen, er ist wirtschaftlich leidlich erfolgreich, aber ein Multijobber. Die Übereinstimmungen mit der postmodernen Lebenswirklichkeit des urbanen Publikums ergeben sich sofort: die Anonymität der Großstadt, die Singularisierung, die Beziehungsunfähigkeit, die Einsamkeit, die Orientierungslosigkeit, das Gefühl der Unbehaustheit, die prekären Arbeitsverhältnisse – allesamt Phänomene, die der urbane Zuschauer aus dem eignen Leben kennen dürfte. Die Ziellosigkeit bestimmt das Leben des Zuschauers ebenso wie die daraus resultierende emotionale Unbeteiligtheit, welche schließlich in Kälte mündet. All dies bekommt das Publikum hier in heroischer Überhöhung dargeboten, um der empfundenen Tragik der eigenen realen Existenz etwas Heldenhaftes abzugewinnen. Aus Kälte wird Coolness.

Der Zuschauer findet sich zu Teilen im namenlosen Fahrer wieder, weniger in der Crime Story, dafür umso mehr in der Liebesgeschichte. Die Bindungsscheue, die bei aller empfundenen Einsamkeit und Sehnsucht dennoch nur zaghafte und oberflächliche Beziehungen zulässt, mag der Zuschauer aus dem eigenen Leben kennen. Wenn der Fahrer die geliebte Frau endlich küsst und ihr anschließend das Leben rettet, indem er den Killer überwältigt, so ist innerhalb von Sekunden das Leben und die Liebe der Frau und eine gemeinsame Zukunft gewonnen. In der nächsten Sekunde ist auch alles wieder verloren, denn der Fahrer zertrampelt nicht nur den den Kopf des Killers, sondern damit auch die zarte Liebe, ehe sie überhaupt wirklich beginnen kann. Eine Schlüsselszene. Sowohl für die Charakterisierung des Helden als psychisch kranker Gewalttäter wie auch für die Rezeption des Zuschauers, dem zwar kaum jemals ein bewaffneter Killer im Fahrstuhl begegnet sein dürfte, der aber möglicherweise Erfahrung im geradezu mutwilligen Zerstören einer sich entfaltenden Liebesbeziehung haben mag. So wie das heranwachsende männliche Publikum in der eigentlich realitätsfremden Figur des einsamen Rächers ein Stück eigener Lebenswirklichkeit wiederfindet, erkennt der singularisierte postmoderne Großstädter Versatzstücke seiner eigenen einsamkeitsgeplagten Existenz in der Liebesgeschichte wieder: Die Neigung zu ohnehin nur oberflächlichen Liebesbeziehungen, die, sobald sie sich intensivieren, zu einer Bedrohung der bis dahin gelebten Existenz werden, die man zwar nicht etwa geliebt, an die man sich aber gewöhnt hat, da man sich nun einmal eingerichtet hat in diesem Unzuhause, das für eine verbindliche Liebesbeziehung aufgegeben werden müsste. Drive erzählt von dieser Unfähigkeit, von diesem Scheitern im Ergreifen eines neuen gemeinsam zu lebenden Lebens zugunsten des ziellosen Umhertreibens; Drive erzählt dies als rasanten Gangsterfilm, als Action-Crime-Story: Drive erzählt vom Gefühlsleben des Zuschauers in heroischer Apotheose. Drive ist die heroische Glorifizierung zielloser urbaner Einsamkeit.

Bibliographie (Auswahl)

Sallis, James: Driver. Übersetzt von Jürgen Bürger. Liebeskind, München 2007.
von Brincken, Jörg (Hrsg.): Nicolas Winding Refn (Film-Konzepte. Nr. 54). edition text + kritik, München 2019.
Wortmann, Thorsten: Ryan Gosling: Die Biografie. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, 2013.

Abbildungsnachweis

Die Abbildungen stammen aus Drive, USA 2011, Produktion: John Palermo, Adam Siegel, Michel Litvak, Gigi Pritzker, Marc Platt. Regie: Nicolas Winding Refn. Kamera: Newton Thomas Sigel. Drehbuch: Hossein Amini. Distributed by Sony Music Entertainment Germany GmbH. Copyright 2012 Universum Film GmbH. Ein Unternehmen der Mediengruppe RTL Deutschland.

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