Die Nacht des Jägers

The Night of the Hunter

Charles Laughton, USA 1955

Der Film beginnt mit einem Prolog im Himmel. Lilien Gish, in himmlischen Sphären schwebend, liest aus der Bibel gleich einem Märchenbuch die neutestamentarische Weisheit, wonach man den Propheten an seinen „Früchten“ erkennen soll: „Ein guter Baum kann keine schlechte Frucht bringen. Und ein schlechter Baum kann keine gute Frucht bringen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Nachdem in der himmlischen Einstiegsszene die Moral von der Geschichte verkündet wurde, taumelt die Kamera vom Himmel in den märchenartigen Strudel des Bösen hinab, ein Strudel, dem der Zuschauer sich nicht entziehen kann, insofern sich der Bedrohung unschuldiger Kinder eine Anteilnahme kaum versagen lässt. Dieser Sog führt in das West-Virginia zur Zeit der großen Depression, Amerikas Zeit der Not, der tiefsten Krise dieses optimistischen Landes, zudem die Zeit, in der die meisten zeitgenössischen Zuschauer dieses Films über die Kindheit ihre eigene Kindheit verbracht haben mögen: eine Rückblende, zusätzlich betont durch den Auftritt des Stummfilmstars Lilien Gish, die ihre größten Erfolge mit David W. Griffith feierte, dessen Bildsprache gemeinsam mit dem deutschen expressionistischen Film hier Pate gestanden hatte.1 Und jene (alp-)traumartige expressionistische Bildsprache ist es, die die historische Einbettung konterkariert, indem eine von Zeit und Ort abstrahierende Atmosphäre der Surrealität, der Parabel und somit der Allgegenwart und Immer-Gültigkeit evoziert wird.

Dieses Immer-Gültige beginnt mit einem Totschlag: Die Not der Umstände ließen den verzweifelten Ben Harper einen Raub und infolgedessen einen Mord begehen. An der Schulter verletzt, flüchtet er sich blutverschmiert vor dem Eintreffen der ihn verfolgenden Polizei zu seinen Kindern, dem neunjährigen John und der vierjährigen Pearl, in deren Puppe er das Geld versteckt, das die Kinder künftig vor Armut bewahren soll. Seine Kinder macht er zu Komplizen des Verbrechens, indem er sie schwören lässt, niemandem zu verraten, wo das Geld versteckt ist, ehe er von der eintreffenden Polizei vor den Augen der Kinder überwältigt und ins Gefängnis abgeführt wird. Doch der Vater, der seinen Kindern den Schwur abgenommen hatte, vermag ihn selbst nicht zu halten, und gibt im Schlaf redend das Geheimnis seinem Zellengenossen preis. Und so macht sich aus dem Gefängnis, diesem Ort des Übels, in dem Verbrecher zusammengepfercht sind und Harper den Tod am Strang findet, das personifizierte Böse auf den Weg, die unschuldigen Kinder heimzusuchen, um ihnen Geld und Leben zu rauben.

Aus derselben Zelle, in der der ungewollt zum Mörder gewordene, unschuldig-schuldige Harper seine letzten Tage bis zur Hinrichtung verbringt, kommt nach dessen Tod der maßlos böse, diabolische Harry Powell, um Harpers Platz einzunehmen. Ein Bigamist und Serienmörder, der sich das Vermögen seiner vornehmlich weiblichen Opfer aneignet, tötend aus berechnender Gier wie aus krankhaftem Trieb. Ein Lustmörder, dem beim Besuch der Stripvorstellung das Messer in der Tasche aufspringt wie ein erigierter Penis; ein Mensch, dessen Liebesverlangen im Moment der Empfindung in ein Verbot derselben umschlägt und um der Einhaltung dieses Verbotes willen in das Verlangen nach der Ermordung dessen mündet, was die Begierde, was die Liebe weckt. So trachtet er danach, das zu vernichten, was sein Begehren hervorruft. Sinnfällig zeigen seine Hände, auf deren Knöchel die Worte „Liebe“ und „Hass“ tätowiert sind, diese perverse Verschränkung seiner mit Bosheit durchtränkten Liebe.

Die Unentrinnbarkeit dieser bösen Liebe legt sich in ihrer bedrohlichen Unheimlichkeit dem Zuschauer aufs Gemüt so wie der schwarze Schlagschatten von Harry Powell, der nachts vor dem Haus der Kinder auftaucht, sich über das Gesicht des kleinen John legt. Unentrinnbar sind die Kinder dem Bösen ausgeliefert, weil sie auf es angewiesen sind, weil es die Eltern sind, von denen das Böse ausgeht. Harry Powell findet den Weg zu seinen Opfern über die Liebe: Als falscher Prediger erschleicht er sich das Vertrauen der Gemeinde, heiratet die Mutter, gelangt als fürsorglicher Stiefvater zur Herrschaft über Wohl und Leben von Pearl und John. In der Gestalt des Guten, des Hirten, des Priesters und des Vaters, tritt das Böse in das Leben der Kinder. Von den „everlasting arms“, die der falsche Prediger und heuchelnde Stiefvater in dem von ihm unentwegt gesungenen Choral beschwört, geht das Unheil aus. Die „everlasting arms“ – aus Sicht der Menschheit Gott, aus Sicht eines Kindes die Eltern – schneiden denjenigen, die sich vertrauensvoll in sie bergen, die Kehle durch.

Charles Laughton geht es um die zweischneidige Natur der elterlichen Liebe. Während der Vater Ben Harper, der für seine Kinder das Beste wollte, der sogar zum Mörder wurde, um seine Kinder vorm Hunger zu bewahren, der Auslöser war für die Nachstellungen Powells, so ist es die Mutter Willa Harper, die der Bedrohung bereitwillig die Tür zu ihrem Leben und dem ihrer Kinder öffnet. Ohne jegliche Vorsicht, ohne jegliches Misstrauen, liefert sie ihre Kinder einem ihr nahezu unbekannten Menschen aus. Ist Willa bis dahin nur fahrlässig, zeigt sie später eine nur als grausam zu bezeichnende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Kinder, als sie erkennen muss, dass sie sich in Harry Powell getäuscht hat. Auch jetzt, als sie nicht mehr umhin kann zu sehen, dass ihr wölfischer Gemahl dem Geld und damit Pearl und John nachstellt, scheint sie keinerlei Sorge für ihre Kinder zu empfinden, setzt sie ihm keinerlei Widerstand entgegen. Gerade ihre Einwilligung in ihre Ermordung aus einem durchaus egoistischen Motiv, nämlich der Enttäuschung über ihr unerfülltes Liebesverlangen, lässt ihr Desinteresse für ihre Kinder deutlich werden, denn sie muss wissen, dass diesen nach ihrem Tod ohne jeden Zweifel das Gleiche drohen wird – und sie lässt es geschehen, sie gibt dem Bösen im Angesicht des Todes ihren Segen.

Nachdem er die Mutter getötet und im Wasser versenkt hat, sind John und Pearl ihrem Stiefvater nun schutzlos ausgeliefert, der von ihnen verlangt, das Versteck des Geldes preiszugeben oder sie zu töten droht. John, der dem Vater zu schweigen geschworen hat, droht als erster zum Opfer des von den leiblichen Eltern heraufbeschworenen Verhängnisses zu werden. Als Powell ihn mit gezücktem Messer auf ein Fass voller Äpfel niederpresst – voller Früchte, an denen die Propheten sich zu erkennen geben –, scheint die Szene die Ikonographie des Isaakopfers zu zitieren: das heißt, die Szene zeigt John als den vom Vater zu tötenden Sohn. Soll Powells Identifizierung mit dem biblischen Urvater dessen Gotteswahn betonen? Oder hat es mit der Darstellung Johns in der Pose des auf den Schlachtaltar gepressten Isaak eine weitergehende Bewandtnis? In der christlichen Auslegung des Alten Testaments ist die befohlene und dann aufgehobene Opferung Isaaks in Hinblick auf die spätere Opferung von Gottes Sohn zu verstehen. Es handelt sich nicht allein um eine Glaubensprüfung, in der der Gehorsam des Vaters vor Gott zu bestehen hat, sondern als Antizipation der Kreuzigung deutet sich hier bereits die Notwendigkeit des Opfers an. Dieses wird im Neuen Testament dann tatsächlich vollzogen, der eigene Sohn wird geopfert - für die Sünden der Menschen. Aber wenn die Szene tatsächlich eine Anspielung auf das Isaakopfer ist und John also in der Pose des Sündenbocks gezeigt wird: Für wen solle er dieses Opfer bringen müssen? Für Pearl? Sie würde ihm in den Tod folgen, das Opfer wäre nutzlos. Er bringt das Opfer für seinen Vater, dem er Gehorsam geschworen hat. Er droht, geopfert zu werden für die Verfehlungen seiner Eltern, er ist der Sündenbock für seine Eltern.

John als Sündenbock: Die Szene zitiert die Ikonogaphie des Isaakopfers.

Nachdem es den Kindern gelingt zu entkommen, verfolgt Powell sie über Tage und Nächte, beständig den Choral der „everlasting arms“ singend – wie ein guter Hirte, wie ein fürsorglicher Vater. Die sich selbst überlassenen Kinder fliehen auf einem Boot über den Fluss, auf dessen Grund ihre Mutter mit durchschnittener Kehle verborgen liegt. In der berühmten Szene der von Tieren behüteten nächtlichen Fahrt über den Fluss gelingt es der Bildsprache des Films, glaubwürdig die Sicht der Kinder einzunehmen, indem die Kameraarbeit Archetypen des kindlichen Bewusstseins einfängt. Laughton findet in der bildlichen Veranschaulichung der kindlichen Gemütslage eine so sensible und empathische Motivbildung, dass zu vermuten ist, er selbst sei persönlich tief berührt von jener Grunderfahrung, von der Die Nacht des Jägers handelt: Das Leben der Kinder ist unauflösbar mit den Vergehen der Eltern verknüpft und die Kinder können um ihrer Kindlichkeit, um ihrer selbst willen, nicht zulassen, diese Vergehen, und seien sie noch so groß, irgendjemand sehen zu lassen, am allerwenigsten sich selbst. So ist es ja nicht allein der Raubmord des Vaters, der über die Kinder das Verhängnis des märchenhaft bösen Stiefvaters bringt. Es ist vor allem das Versprechen, das der Vater seinen Kindern abgenommen hat: Du darfst mit niemandem darüber reden, das muss du schwören! Dieser bis in den Tod bindende Eid, die Vergehen der Eltern zu decken, ist es, der das Drama der Kinder auslöst. Sinnfälliger Weise ist das geraubte Geld, das Symbol der Schuld, in einer Puppe verborgen: In dem, was den Kindern am liebsten ist – genau daran knüpft sich dann auch ihr Leid.

Nicht nur die Elternschaft, die Familie, hinterfragt der Film, sondern auch die Religion. Der Glaubenseifer Powells hängt unmittelbar mit seiner sexuellen Perversion zusammen, glaubt er doch, die von ihm begehrten und sodann gehassten Frauen in göttlichem Auftrag zu töten. Bei der ihm verfallenen Willa gebärdet sich die religiöse Inbrunst recht unverstellt als sexuelle Sublimierung. Die Religiosität, die Frömmigkeit, so scheint es, stellt sich unmittelbar als erwachsen aus der Triebhaftigkeit der Menschen dar. Powell nutzt sie als Maske, sich das Vertrauen der Gemeinde zu erschleichen, um dann in deren Mitte seine Verbrechen zu begehen. Und dennoch will man in dem Film keine Kritik an der Religion vermuten, denn das Gute im Film gebärdet sich nicht minder fromm. Als die Kinder Rettung finden bei der ebenso resoluten wie herzensguten Rachel Cooper, die sie kurzerhand ihrer Kinderschar einverleibt, werden sie von ihr weiterhin mit Bibelsprüchen traktiert. Als Powell wie der böse Wolf das Haus der Geißlein belauert, dabei beständig den Choral „The Everlasting Arms“ singend, erwidert Rachel, mit dem Gewehr Wache haltend, seine Verse. Rachel ist mindestens so bigott wie Powell, auch sie führt beständig das Wort des Herrn im Munde – die Religion verheißt hier zugleich Gefahr wie Erlösung von derselben. Die Religion wird zwar in ihrer Schändlichkeit, in ihrer Missbräuchlichkeit geschildert, aber ohne dass grundsätzlich an ihr gezweifelt wird. Schließlich gebraucht Rachel das Gewehr und wie ein verwundeter Wolf jault und heult der angeschossene Powell, nachdem er an der Schulter verwundet wurde wie Ben Harper, der Vater von Pearl und John. Als er von der durch Rachel herbeigerufenen Polizei in einer ähnlichen Weise wie Harper überwältigt wird, glaubt John seinen Vater wiederzusehen, und schleuderte die Puppe gegen ihn bis das Geld hervorplatzt.

Die Verwechselung des Mörders mit dem eigenen Vater ist auf der Symbolebene eine folgerichtige Identifizierung. Sie ist bereits in der äußerlichen Kennzeichnung der Figuren als bewusster Gegensatz angelegt, indem Charles Laughton abweichend von der Romanvorlage mit Robert Mitchum und Peter Graves zwei Darsteller gewählt hatte, die zugleich ähnlich und verschieden waren: Beide verfügen über eine ähnliche Statur, aber der Vater ist blond und gut, der Stiefvater schwarz und böse, als wäre der eine der Schatten des anderen. Indem John ihm die Puppe zurückgibt, befreit er sich von dem Schwur und der Last des Familiengeheimnisses der elterlichen Schuld. Aber er ist nicht in der Lage, den `Vater´ anzuklagen. Als vor Gericht alle den Tod des Mörders Powell fordern und der Richter mit überzeichneter Gestik auf den Angeklagten weist, ist das Kind John als Zeuge der Anklage unfähig, den Mörder zu identifizieren – so wie Kinder vor den Vergehen der Eltern um der Erhaltung ihrer Kindlichkeit willen die Augen verschließen. Die bewusste Entgegensetzung zweier Figuren findet sich gleichfalls bei Rachel und Willa. Rachel, deren Name – entlehnt von einer der Stammmütter Israels, die erst im hohen Alter den von seiner Familie verratenen, traumdeutenden Joseph gebar – im Hebräischen Mutterschaf bedeutet, diese Rachel ist eine matriarchale Karikatur: im doppelten Wortsinne Groß-Mutter, während Willa – gleichgültig und überfordert, lüstern und willfährig – Versager-Mutter ist. Beide Charaktere ergänzen sich in ihrer einseitigen Überzeichnung ähnlich wie bei Powell und Harper.

Die Zellengenossen Ben Harper und Harry Powell, gespielt von Peter Graves und Robert Mitchum. Als Vater und Stiefvater bilden sie sowohl eine Einheit als auch einen Gegensatz.

Diese bewusste Entgegensetzung bei gleichzeitig angedeuteter Identifikation läuft letztendlich auf die Frage hinaus, inwieweit die bösen Stiefeltern auf der Symbolebene in den Märchen, – denn mit einem Märchen haben wir es hier zu tun2 – von den leiblichen Eltern überhaupt zu trennen sind. Oder symbolisieren die bösen Stiefeltern in den Märchen nicht vielmehr einen negativen, einen aggressiven Aspekt der leiblichen Eltern? Dergestalt, dass dieses Aggressive, dieses Böse, das auch die leiblichen Eltern in ihr Verhalten zu den Kindern einfließen lassen, von diesen abgespalten als eigenständige Figur in der Gestalt der Stiefeltern personalisiert ist? Und die Märchen verstehen dieses Böse als etwas, was als Teil der Familie akzeptiert und hingenommen werden muss. Die Symbolebene des Films funktioniert ähnlich: so wie die Institution der Familie hinterfragt, aber nicht aufgehoben wird, verhält es sich mit der Religion. Der gleiche psychologische Fatalismus, der im Schrecklichen des Familiären, im Konflikthaften der Eltern-Kind-Beziehung eine unaufhebbare Notwendigkeit erkennt, kann in dem Missbrauch der Religion zur Erreichung schändlicher Ziele nur die Schattenseiten des zur Tröstung durch religiöses Erlösungstrachten notwendigen Gottvertrauens sehen. Dieser Missbrauch ist einerseits unabwendbar, auch wenn andererseits das Vertrauen in Gott uns von Schuld und Sorge befreit.

Am Ende, in der letzten Szene, wenn der kleine John zum Weihnachtsfest Rachel einen Apfel, eine Frucht, zum Geschenk macht, kehrt der Film an den Anfang zurück, wo von den Früchten die Rede war, an denen man die falschen Propheten erkennen soll. Diese Früchte: das sind die Kinder, deren glückliche oder unglückliche Entwicklung darüber Auskunft gibt, was es mit den Prophezeiungen bzw. den wirklichen, wenn auch verborgenen Absichten der Eltern auf sich hatte. Dieses Geschenk, das John Rachel macht, erhält dadurch seinen besonderen Charakter, dass John zu einem früheren Zeitpunkt im Film von Rachel aufgefordert worden ist, ihr einen Apfel zu bringen und sich selbst auch einen zu nehmen. Dieses Angebot an John, sich einen Apfel zu nehmen, erscheint auf der Handlungsebene als ein Versuch, das Vertrauen des verstockten und verletzten Jungen zu gewinnen. Indem er nun seinerseits ihr einen Apfel überreicht, gibt er zu erkennen, dass er auf ihr Vertrauensangebot eingeht. Aber dass der Apfel nicht allein ein Symbol von Vertrauensseligkeit, nicht allein ein Symbol von kindlicher Arglosigkeit, die der traumatisierte Junge allmählich wieder zurückgewinnt, ist, gibt die von der Romanvorlage abweichende, kryptische Antwort von Rachel zu erkennen: `That’s the richest gift a body could have.´ Dass er Rachel zu Weihnachten nun seinerseits einen Apfel überreicht, ist das Zeichen, dass er bereit ist, Vertrauen zu fassen, dass die Verstocktheit überwunden ist, dass die Loyalität mit dem Vater ihm nicht mehr den Mund verschließt. Vor allem aber wird die weihnachtliche Überreichung des Apfels an Rachel so zu einem Zurückgeben des Apfels, einem Zurückgeben der Frucht.

Der zurückgegebene Apfel als Symbol wiedergewonnener Unschuld: `That’s the richest gift a body could have.´

Dieses Zurückgeben des Apfels hat auf der Symbolebene des Films eine überragende Bedeutung: Der Apfel ist in diesem mit Bibelzitaten überfrachteten Film das Symbol der Erbsünde, die durch Jesus überwunden ist, indem er die Menschen durch sein Opfer von der Erbsünde, von ihrer ererbten Schuld erlöst. Wenn John der Groß-Mutter Rachel zum Weihnachtsfest, dem Fest der Geburt des Jesus-Kindes, einen Apfel schenkt, wenn er also dieser Urmutter das Symbol der menschlichen Verstrickung in unentrinnbar ererbte Schuld zurückgibt und sie ihm sagt `That’s the richest gift a body could have´, dann ist der Apfel das Symbol zurückgewonnener Unschuld, in der Weise, dass John sich entlastet hat von dem Verbrechen, zu dessen Komplizen ihn sein Vater durch die Abnahme des Schwurs gemacht hat. Der zurückgegebene Apfel symbolisiert, eben indem er zurückgegeben wird, nun nicht mehr die Sünde, die Schuld, sondern die Unschuld. In dieser Hinsicht bedeutet ihre Antwort, dass also diese Unschuld, diese Reinheit jenes reichste Geschenk ist, das ein Körper bereithält. Dann ist der zurückgegebene Apfel, diese Frucht, `the richest gift a body could have´: das unschuldige Kind.

„Lord, save little children. The wind blows and the rain's a-cold. Yet they abide... They abide and they endure.“ Die letzten Sätze von Rachel Cooper, die letzten Worte des Films, beschwören das Heldentum der Kinder, das der Film in so Fabel-hafter Form vorführt. Dieses Heldentum beruht nicht zuletzt auf dem, worin die Unschuld der Kinder ihre Ursache hat: In ihrer Unkenntnis. In ihrem Unvermögen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, wie auch dem Unvermögen, sich dem eigenen Schicksal zu entziehen, dem Unvermögen zur Wahl des eigenen Lebens. Das Kind hat eben keine Wahl, darum erduldet es die elterliche Unzulänglichkeit, darum formt es diese zu einer neuen Existenz.

Das Motiv des elterlichen Versagens spielt in der Romanvorlage keine bedeutende Rolle. Es ist Laughtons Zutat. Dieses Versagen hat ihn so sehr beschäftigt, dass er ihm seine einzige Regiearbeit gewidmet hat. Dabei mag aus diesem Versagen durchaus Großes erwachsen. Charles Laughton selbst ist ein Beispiel. Seine streng religiösen Eltern hatten ihre ganze Energie in ihr erfolgreiches Geschäft als Hoteliers, mithin in die Sicherung des sozialen Aufstiegs gesteckt, also wirtschaftlich für ihre Kinder alle erdenkliche Vorsorge getroffen und sie eben darüber emotional permanent vernachlässigt – ein Zustand der sich wohl kaum dadurch verbesserte, dass sie das Kind Charles in einem jesuitischen Internat erziehen ließen. Der erwachsene Laughton hat das elterliche Erbe demonstrativ zurückgewiesen, indem er zum Entsetzen seiner Familie auf die Übernahme des Hotels verzichtete, um eine Ausbildung als Schauspieler zu beginnen, und sich zeit seines Erwachsenenlebens demonstrativ antireligiös gebärdete. Dennoch behielt der als Kind einer dominanten und erzkatholischen Mutter zum homosexuellen Mimen mutierte Laughton für den Rest seines Lebens einen Schuldkomplex zurück, der als Impetus seiner Kreativität, als Implikat seines Talents verstanden werden müsse, wenn man seiner Frau Elsa Lanchester glauben will.3 Sie verweigerte ihm als Reaktion auf seine Homosexualität die von ihm ersehnten Kinder und als er Jahre später im Zuge der Dreharbeiten von Die Nacht des Jägers Gelegenheit zum führenden und einfühlsamen, also väterlichen Umgang mit Kindern hatte, konnte er deren Eigenheiten so wenig ertragen, dass er Robert Mitchum die Regiearbeit mit den Kinderdarstellern überlassen musste.4 Das Kind Charles Laughton – sensibel und intelligent, verweichlicht und verweiblicht, dicklich und hässlich – wird kaum glücklich und unbeschwert gewesen sein. Viele Gefühle aus Laughtons eigener Kindheit, so ist zu vermuten, dürfte man in Die Nacht des Jägers wiederfinden.

Bibliographie (Auswahl)

Bauer, Stephen M.: Oedipus Again: A Critical Study of Charles Laughton’s The Night of the Hunter. In: The Psychoanalytic Quarterly, Jahrgang 1999, Ausgabe 4, S. 611–636.

Baute, Michael; Pantenburg, Volker (Hrsg.): 93 Minutentexte: The Night of the Hunter. Brinkmann und Bose, Berlin 2006.

Couchman, Jeffrey: The Night of the Hunter: A Biography of a Film. Northwestern University Press, Evanston 2009.

Jones, Preston Neal: Heaven & Hell To Play With – The Filming of The Night of the Hunter. Limelight Editions, New York, 2002.

Schwenn, Thomas A.: Bringing Day to Night: The Resurrection of The Night of the Hunter. Essay online unter BrightLightFilms, 2015.

Sterneborg, Anke: Die Nacht des Jägers / The Night of the Hunter. In: Filmklassiker – Beschreibungen und Kommentare. Hrsg. von Thomas Koebner. 5. Auflage, Reclam junior, Stuttgart 2006, Band  2: 1946–1962, S.  270–274.

Abbildungsnachweis

Die Abbildungen stammen aus Die Nacht des Jägers, USA 1955, Paul Gregory Productions. Regie: Charles Laughton. Kamera: Stanley Cortez. Drehbuch: James Agee. Metro-Goldwyn-Mayer Studios. Inc. Lizenzausgabe der Süddeutsche Zeitung GmbH für die Süddeutsche Zeitung Cinemathek 2006.

  1. Zum Beispiel wird das Versteck der Kinder mittels einer Irisblende filmisch fokussiert; eine typische Stummfilmtechnik, etabliert durch Griffith. Vgl. dazu Enge, Sigurd: Noirish or film noir? (PDF) 2009, S. 11.
  2. Charles Laughton bezeichnete den Film als alptraumhaftes Märchen („Mother Goose“). Vgl. dazu Peter Kimpton: My favourite film: The Night of the Hunter. 2011.
  3. Vgl. Elsa Lanchester: Elsa Lanchester. Herself. New York 1983.
  4. Diese Darstellung ist nicht unumstritten. Die Dokumentation Charles Laughton Directs `The Night of the Hunter´ von 2002 zeigt Laughton, wie er den Kinderdarstellern Regieanweisungen erteilt.

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