Der Film Noir
Film Noir – Begriffsgenese
Der Begriff Film noir wurde 1946 von dem französischen Filmkritiker Nino Frank zur Charakterisierung US-amerikanischer Kriminalfilme der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts angewandt, die wegen des Krieges erst mit Verspätung auf den europäischen Markt kamen und nun einheitlich von ihm rezipiert wurden, wobei er bestimmte Merkmale wie die Gemeinsamkeiten in den Erzählmustern hervorhob. Die Verwendung des Begriffs Film noir oder Schwarze Serie in den nachfolgenden Jahrzehnten bis heute geht weit über den engen Fokus von Franks Artikel hinaus und bezeichnet Filme, die wenigstens teilweise oder vollständig folgende Charakteristika aufweisen: Prägnante Schwarzweiß-Bilder, oftmals mit Low-Key-Kamera, sodass die Szenerie zu größten Teilen in dunkle Schatten getaucht ist; düstere Geschichten, bei denen ein pessimistischer Grundton prägend ist, teilweise unter Verzicht auf ein Happy End; desillusionierte, bisweilen zynische (Anti-)Helden; ambivalente Nebenfiguren, die sich als schwer durchschaubar und unverlässlich erweisen; eine von Korruption und Egoismus geprägte Umwelt, einschließlich der Staatsgewalt; eine zeitgenössische urbane Umgebung als Hintergrund-Setting.
Die bewusste Betonung der Schwärze im Schwarzweißfilm, seine Hervorhebung durch Verstärkung der Kontraste erfolgte nachweislich unter bewusster Bezugnahme auf den deutschen expressionistischen Film. Dieser Umstand, gepaart mit dem Faktum, dass auffallend viele deutsche und österreichische Exil-Künstler unter den Filmschaffenden Hollywoods am Entstehen der Schwarzen Serie beteiligt waren, hat zu der These geführt, dass der Film noir als Exilantenstil zu verstehen ist. Dies impliziert eine Begrenzung des Film noir auf die Vereinigten Staaten. Tatsächlich sind mehrere maßgebliche Autoren der Ansicht, es handele sich um ein amerikanisches Phänomen, zumal zweifellos die Mehrzahl der dem Film noir zuzurechnenden Filme aus Hollywood kommt. Neben den Versuchen einer geografischen Eingrenzung wurde auch immer wieder dahingehend argumentiert, den Film noir anhand seiner Thematik und Erzählmuster, also anhand seiner narrativen Struktur zu definieren. So vertreten einige Filmtheoretiker die Ansicht, beim Film noir handele es sich nicht etwa nur um ein stilistisches Phänomen, das in verschiedenen Genres zur Anwendung gekommen ist, sondern um ein eigenes Genre analog zum Western, zum Abenteuerfilm oder zur Screwball Comedy.
Stilmittel des Film noir
Was zu der Ansicht, den Film noir als ein eigenständiges Genre aufzufassen, geführt haben könnte, sind vielfach wiederkehrende Handlungsmuster – zumeist undurchsichtige Kriminalfälle – sowie ein stereotyper Figurenkanon, der nicht in allen Filmen der Schwarzen Serie auftritt, aber in vielen. Da wäre der sarkastische (Anti-)Held; dieser gerät oftmals in Konflikt mit der Polizei, deren Vertreter immer wieder als rücksichtslos, zuweilen als korrupt geschildert werden. Treibende Kraft in der Entwicklung der Geschichte sind vielfach skrupellose Gangster. Mit diesen und mit dem Helden in Beziehung steht die Femme fatale. Diese Figuren bevölkern eine Welt, in der es keine verlässlichen Werte gibt, in der nichts sicher ist, in der es keine vorgegebene Orientierung gibt.
Der Held selbst ist in seiner desillusionierten Abgeklärtheit der moralischen Maßstäbe verlustig gegangen. Er steht in diametralem Gegensatz zum klassischen Westernhelden, der genau weiß, was richtig und falsch ist. Zwar ist sein Zynismus als enttäuschter und schließlich in sein Gegenteil verkehrter, mithin also pervertierter Moralismus zu verstehen, aber dennoch fällt er in diesem Sinne als moralisches Vorbild aus. Er ist kein strahlender Held, oftmals selbst in ein Verhängnis verstrickt und solcherart kein Handelnder aus eigenem Antrieb, sondern ein Getriebener. So wie in vielen Filmen die Hauptfigur als moralischer Fixpunkt versagt, versagt auch die Staatsgewalt als Garant des Guten. Sowohl in den literarischen Vorlagen als auch in den Verfilmungen werden die Gesetzeshüter oft genug als moralisch fragwürdige Figuren gezeichnet. In ihren Methoden rücksichtslos und an der Grenze der Legalität handelnd, sind sie von den `Bösen´ im Wesentlichen nur durch ihre institutionelle Zugehörigkeit zum Staatsapparat geschieden. Zudem ist Korruption ein durchgängiges Thema des Film noir. Wieder und wieder tauchen in der Schwarzen Serie Streifenpolizisten, höhere Kriminalbeamte, Staatsanwälte und Richter auf, die mit dem organisierten Verbrechen verbandelt sind und den Staat als käuflich und manipulierbar erscheinen lassen.
Noch wirkungsmächtiger als die Dekonstruktion des Helden oder der Staatsgewalt ist der Verlust der Unschuld bei der weiblichen Hauptfigur: Die ebenso schöne wie skrupellose Femme fatale gehört zum Standardrepertoire der Schwarzen Serie. Insofern Schönheit und Jugend in der Kunst üblicherweise mit moralischer Reinheit identifiziert wird, ist es ein Stilmittel der Überraschung, ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Rezipienten, ein kalkulierter Verstoß gegen die Konvention, wenn ein schöner Mensch, erst recht eine schöne Frau verlogen und böse ist. Gleich zwei Übereinkünfte werden dann gebrochen: Die Frau ist nicht mehr passiv, sondern treibende – negative – Kraft des Geschehens; und die Schönheit ist nicht mehr unschuldig, sondern böse. Die Filme der Schwarzen Serie haben ob der Redundanz dieses Stilmittels oftmals einen frauenfeindlichen Charakter: Der Malteserfalke (The Maltese Falcon), Frau ohne Gewissen (Double Indemnity), Der schwarze Spiegel (The Dark Mirror), Im Netz der Leidenschaften (The Postman Always Rings Twice), Rächer der Unterwelt (The Killers), Goldenes Gift (Out of the Past), Die Lady von Schanghai (The Lady from Shanghai), Engelsgesicht (Angel Face), ...usw. Es scheint hier gerade die intuitive Identifizierung des Schönen mit der Unschuld, mit der Wahrheit, die das wesentliche erzählerische Element der Geschichte – die böse Frau, die vergiftete Schönheit – motiviert. Ein narratives Muster, das seine Wurzeln im Überraschungseffekt des Whodunit haben mag und das sich im Film noir verselbstständigt. Das Ziel dieses Erzählmusters jedoch bleibt erhalten: Es geht der Erzählung darum, Erwartungshaltungen des Rezipienten zu enttäuschen.
Dieser für den Film noir typische Verrat an der Romantik hat den Zweck, die moralische Verunsicherung des Zuschauers auf die Spitze zu treiben: Nirgendwo ist man sicher vor Lüge und Verrat, nicht mal der Stimme des eigenen Herzens kann man mehr vertrauen. Überall lauert das Böse; gerade dort, wo man es am wenigsten vermutet, wartet es darauf, den Helden zu überfallen und ins Verderben zu ziehen. Der Anti-Held, der korrupte Staat, die Femme fatale: Eine mit diesem Figurenkanon bevölkerte Welt ist eine, in der nicht nur das Gute verloren gegangen ist, sondern in der die Maßstäbe für gut und böse als solche fragwürdig geworden sind. Die Figuren und Geschichten des Film noir ziehen den Zuschauer in einen Strudel des Schlechten hinunter. Die Unverlässlichkeit des Bekannten, des bis dahin Guten suggeriert, dass alles ins Wanken gerät, mit dem Ziel, eine besondere Abgründigkeit zu erlangen, eine Allgegenwart des Bösen zu evozieren.
Zur Ambivalenz der Charaktere gesellt sich die Undurchdringlichkeit der Erzählung. Die Drehbücher steigern gegenüber den teilweise recht schlichten literarischen Vorlagen bewusst die Komplexität. Vielfach bedienen sich die Filme der Rückblende, was zum einen eine Vielschichtigkeit innerhalb der Erzählung bewirkt, zum anderen, wenn die Rückblende als Erinnerung eines bestimmten Protagonisten geschildert wird, einen gesteigerten Subjektivismus, weil das Geschehene die Sichtweise des Betreffenden wiedergibt. Beides führt dazu, Geradlinigkeit und Objektivität in der Erzählung zu negieren, also genau jene Strukturen, die dem Rezipienten einer Geschichte den inhaltlichen und moralischen Überblick erleichtern. Der Subjektivismus als Erzählmuster hat überdies noch einen weiteren Effekt, nämlich die Beziehungslosigkeit und Vereinsamung des Erzählers selbst als Grundthema der Erzählung zu etablieren, ohne diese ausdrücklich zu thematisieren. Die Erzählerstimme der Hauptfigur, die zunächst einmal nur eine Adaption der literarischen Vorlagen darstellte und die dunkle Handlung aus der Sicht des Helden schildert, dient vordergründig dazu, den Zuschauer durch die Handlung zu geleiten, gleichzeitig ist sie immer auch ein Zeichen des Subjektivismus und der Vereinsamung. Dieses narrative Muster des Films ist einer der Bausteine jener existenzialistischen Grundgestimmtheit, die die Filme vermitteln und die jenem Gefühl des zunehmend urbanen Publikums mit seiner Entwurzelung aus Tradition und familiärem Zusammenhalt entsprochen hat.
Dieser Subjektivismus hat sich sogar in der visuellen Gestaltung der Filme niedergeschlagen. Die Dame im See (Lady in the Lake) oder Die schwarze Natter bzw. Das unbekannte Gesicht (Dark Passage) sind zu großen Teilen mit der subjektiven Kamera gedreht, die die Ereignisse streng aus der Perspektive des Helden schildert. Der Subjektivismus war von solcher Bedeutung, dass die Studios sich bei der Produktion kommerzieller Filme zu formalen Experimenten hinreißen ließen. Diese Bereitschaft zum Experiment ist ein wesentliches Merkmal des Film noir. Die Kamera nicht nur in der Farbgebung, sondern auch in der Perspektive als Träger emotionaler Botschaften einzusetzen, ist in zahlreichen Filmen der Schwarzen Serie nachweisbar. Extreme Untersicht oder eine `verrückte Perspektive´, eine schräge Kamera als visuelle Entsprechung der dramatischen Ebene sind ein wiederkehrendes Stilmittel. Diese Kamera zeigt eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, in der alles ins Wanken kommt, in der der Zuschauer keinen Halt findet. Figurenkanon, Erzählmuster und visueller Stil verbinden sich zu einem gemeinsamen Ziel: Die Verunsicherung des Zuschauers.
Film Noir als genreübergreifendes und internationales Phänomen
Wird man dem Phänomen `noir´ gerecht, wenn es man es verengt auf amerikanische Kriminalfilme? Im Kern wird der Begriff immer noch für amerikanische Krimis der 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts verwendet, doch die typischen gemeinsamen Merkmale jener Filme lassen sich auch bei Filmen nachweisen, die nicht zum Krimi-Genre gehören oder die nicht aus den Vereinigten Staaten kommen. Bereits Nino Frank stellte in seinem Artikel von 1946 Bezüge zwischen den Kriminalfilmen und Melodramen wie Die kleinen Füchse (The Little Foxes) oder der filmischen Charakterstudie Citizen Kane fest. Und tatsächlich beschränken sich die Parallelen nicht nur auf die visuelle Ebene, sondern schließen die mehrgründigen Erzählmuster, die Ambiguität der tragenden Charaktere und die pessimistische Grundstimmung mit ein. Das filmstilistische Adjektiv `noir´ wird immer wieder zur Kennzeichnung von Filmen herangezogen, die nicht dem Gangsterfilm oder benachbarten Genres wie dem Thriller, dem Polizei-, Gefängnis- und Agentenfilm zuzuschlagen sind. Nicht nur die düsteren Melodramen um die doppelbödigen Heldinnen des 40er Jahre Hollywood-Kinos wie Bette Davis, Joan Crawford oder Barbara Stanwyck sind in Bildsprache und Stimmung `noir´, sondern sogar einige Western oder Kostümfilme. Verfolgt (Persued) von Raoul Walsh ist in starkem Helldunkel-Kontrast fotografiert und verschleift die für Western typische Gut-Böse-Dichotomie. Orson Welles' Othello ist de facto Shakespeare als Film noir: Low-Key-Kamera, effektvolle Schlagschatten, bedrückende Perspektiven, düstere Symbolik, ambivalente Helden, pessimistische Stimmung. Die Reduktion des Film noir auf das Kriminal-Genre ist fraglich. Im Inhalt, in der Erzählstruktur, in der Handlung ist der Film noir so heterogen, dass die Eingrenzung auf ein spezifisches Genre kaum gelingen will.
Desgleichen kann auch die Eingrenzung auf ein geographisches Gebiet nur schwer überzeugen. Wenn man von der historischen Entstehung der stilistischen Benennungen des Film noir, die für US-amerikanische Filme eingeführt wurde, einmal absieht, erscheint es schwer nachvollziehbar, sie auf amerikanische Filme beschränken zu wollen. Zeitgleich wurden in Frankreich, Großbritannien und Italien zahlreiche Filme gedreht, die nicht weniger düster, nicht weniger noir waren als die amerikanischen Produktionen. Für die Carol-Reed-Filme Ausgestoßen (Odd Man Out) oder Der dritte Mann (The Third Man) trifft alles zu, was auch für die amerikanischen Kriminalfilme gilt, bis hin zu den Bezugnahmen auf den expressionistischen Film, obwohl es sich um britische Produktionen handelt. Französische Filme wie Pépé le Moko (Im Dunkel von Algier), Hafen im Nebel (Le Quai des Brumes), Wenn es Nacht wird in Paris (Touchez pas au grisbi) oder Der Panther wird gehetzt (Classe tous risques) sind weniger kontrastreich fotografiert, aber Storytelling und Stimmung sind mit den einschlägigen US-Produktionen in vielerlei Hinsicht synchron. Die stimmungsvoll düstere Bildsprache in Beziehung zum Pessimismus der Geschichte findet sich auch in Das Spiel ist aus (Les jeux sont faits) nach einer Vorlage von Jean Paul Sartre. Zahlreiche Übereinstimmungen lassen sich auch im neorealistischen Kino Italiens der 40er und 50er Jahre finden, dessen bisweilen dokumentarischer Charakter sich in ähnlicher Weise auch in einigen amerikanischen Polizeifilmen findet wie Geheimagent T (T-Men) oder Stadt ohne Maske (The Naked City). Luchino Viscontis Ossessione (Besessenheit), der als Schlüsselfilm des Neorealismus gilt, war eine Adaption eines US-amerikanischen Hard-Boiled-Romans, der wenig später auch zur Vorlage einer amerikanischen Verfilmung wurde: Im Netz der Leidenschaften (The Postman Always Rings Twice).
Die Aufzählung ließe sich immer weiter fortführen. Nur weil für einige dieser nichtamerikanischen Filme bereits Stilbegriffe gefunden waren, ob Poetischer Realismus oder Neorealismus, sind sie deswegen nicht weniger düster in der Bildsprache und nicht weniger pessimistisch in der Stimmung als die amerikanischen Filme. Wenn man den Fokus über die amerikanischen Krimis hinaus erweitert und den Film noir als internationales, genreübergreifendes Stilphänomen betrachtet, fällt auf, dass es nicht ausschließlich die marktwirtschaftlich strukturierten, demokratisch organisierten Gesellschaften sind, in denen düstere Schwarzweißfilme produziert und rezipiert werden. Zwar dominieren insgesamt die Filme aus den kapitalistischen Demokratien deutlich, doch es finden sich auch in den düsteren Epen über Iwan den Schrecklichen von Sergei Eisenstein noir-Elemente, ebenso bei Mikhail Kalatosow, Mikhail Schweitzer, Andrzej Wajda, ...usw. Die Filme aus dem sozialistischen Machtbereich bedienen allerdings nicht das Kriminal-Genre und sie sind weniger gesellschaftskritisch, weil dies den von politischen Vorgaben geprägten Produktionsbedingungen innerhalb einer Diktatur nicht entsprochen hätte. Folglich sind diese Filme politisch affirmativer, aber in ihrer Bildsprache nicht weniger expressiv.
Ein Grund für die Verengung der Schwarzen Serie auf amerikanische Genreproduktionen dürfte darin liegen, dass sie zum Vergnügen und zur Zerstreuung eines Massenpublikums von der Kulturindustrie geschaffen sind. Dass ausgerechnet Unterhaltungsprodukte in so finsterem Schwarz daherkommen, hat diesen Filmen die besondere Aufmerksamkeit in der Filmgeschichte gesichert. Weil eben hier in diesen zum massenhaften Konsum bestimmten Filmen die Bereitschaft zu Pessimismus weitaus überraschender und somit auffälliger ist als bei den für ein elitäres Publikum bestimmten künstlerisch ambitionierteren Filmen. Das Schwarz erscheint dort, wo man es bunt und grell gewohnt ist, noch viel dunkler, und der Pessimismus stimmt dort, wo die Unterhaltung lärmen soll, noch viel beklemmender. Und es ist eben die Düsterkeit, die den Film noir zu dem macht, was er ist. Es ist das Desperate, Depressive, Beklommene, Niedergedrückte, Bedrohliche - dieses findet sich aber eben auch bei zeitgenössischen ausländischen Filmen. Daher ist es sinnvoll, diese antikomödiantische, diese trostlose existenzialistische Gestimmtheit auch außerhalb Amerikas als das zu bezeichnen, als was sie dem Zuschauer in die Augen und ins Gemüt springt, als schwarz, als noir.
Das Phänomen des Film noir tritt Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts auf und macht sich international bemerkbar. Eine transnationale pessimistische Strömung, die sich in den führenden Filmnationen niedergeschlagen hat und die ihre nachdrücklichste Manifestierung in den USA hatte, als demjenigen Produktionsstandort, der die meisten Filme hervorgebracht hat. Herausragendstes Merkmal ist jene mit der pessimistischen Story korrelierende düstere Schwarzweißfotografie. In dem kommerziellen Studiosystem Hollywoods, das überwiegend kassentaugliche Genrefilme auf den Markt wirft, drängten sich bestimmte Genres auf, in einer düsteren schwarzweißen Bildsprache umgesetzt zu werden. Zuerst der Kriminalfilm und ihm benachbarte Genres, dann das Melodram. Somit dominiert der Kriminalfilm innerhalb des Film noir. Diejenigen Farbfilme, die dem Film noir zugerechnet werden, müssen die anderen noir-typischen Merkmale erfüllen, damit sie solcherart etikettiert werden. Das führt dazu, dass unter den Farbfilmen nur Kriminalfilme als noir eingestuft werden. Die nach dem Absterben des Schwarzweißfilms weiterhin produzierten Neo-Noirs müssen also das Kriminalfilm-Genre bedienen, um mit dem Wörtchen `noir´ attributiert zu werden. Dies befeuert die Ansicht, das Phänomen noir auf das Kriminalfilmgenre an sich zu verengen, wohingegen ein Blick auf die Filme der klassischen Film-noir-Periode ergibt, dass es durchaus sinnvoll ist, den Begriff `noir´ in einer größeren Allgemeinheit zu verstehen.
Was ist `noir´?
Wenn man aber `noir´ allgemeiner verstehen will, droht der Begriff zu verwässern. Was also ist in seiner allgemeinsten Verwendung mit dem Wort `noir´ gemeint? Welches Phänomen wird als `noir´ bezeichnet? Um dem Phänomen näher zu kommen, scheint es zunächst angebracht, auf die Verwendung des Begriffs zu schauen. Daraus wird sich ergeben, was dieser Begriff beschreibt. Die Wendung `Film noir´ spricht etwas aus, was Zuhörer und Leser verstehen; der Begriff macht also Sinn. Dieser Sinn muss in keinerlei Zusammenhang zu dem stehen, was der Schöpfer des Begriffs Nino Frank sich dabei gedacht hat, der die Wendung `Film noir´ möglicherweise an die Série noire des Gallimard-Verlags angelehnt hat, in der die französischen Übersetzungen amerikanischer Hardboiled-Krimis erschienen sind. Der Begriff hat schnell ein Eigenleben zu führen begonnen, ist allgemein geläufig und wird weithin verwendet, obwohl kaum jemand den ursprünglichen Artikel von Frank kennen dürfte. Und an der Verwendung des Begriffs `Film noir´ in seiner umgangssprachlichen Mulitvalenz ist leicht zu sehen, dass er über all die Eingrenzungsversuche hinausgeht, die ihn als definierbares Genre klassifizieren oder als national bestimmbare Strömung festlegen wollen. Das, was er im Kern aussagt, ist zunächst einmal nichts Anderes als das Bezeichnen der Farbe des Films. Damit ist die Erzählstimmung und die Farbgestaltung gemeint. Dass der Begriff Film noir sich durchgesetzt hat, liegt am Wort `noir´, `schwarz´. Denn es beschreibt genau das, was diese Filme besonders kennzeichnet. Diese Filme sind schwarz bzw. düster. Zumeist von der Farbgebung und immer vom Inhalt. Die Entsprechung von Bildsprache und Inhalt ist dabei eines der wesentlichen Charakteristika.
Zweifellos gibt es den Film noir auch in Farbe, aber es handelt sich hier um Ausnahmen. Aus der klassischen Ära sind nur wenige Beispiele bekannt. Immer häufiger dagegen bei späteren sogenannten Neo-Noirs. Der Grund ist leicht einzusehen. Der Schwarzweißfilm war inzwischen so ungebräuchlich, dass es ab Mitte der 60er Jahre kaum noch möglich war, einen klassischen Genrefilm, um die es sich beim Film noir meistens handelt, in schwarzweiß an der Kinokasse durchzusetzen. Der Zuschauer hätte es schlicht nicht verstanden. Selbst Jean Pierre Melville, dessen filmisches Schaffen eine fortgesetzte zelebrierende Beschwörung der amerikanischen Schwarzen Serie war, wechselte schließlich zum Farbfilm. Ab Mitte der 60er Jahre waren es zumeist künstlerisch hochgradig ambitionierte Filme, die sich an ein Kennerpublikum wandten, die noch in Schwarzweiß gedreht wurden. Darin liegt auch ein Grund für den allmählichen Niedergang des Stils. Das Schwarzweiß war dem zahlenden Publikum schlicht nicht mehr länger zuzumuten; es verlangte nach Farbe. Andere Faktoren spielten auch mit hinein, so gab es in den zwei wichtigsten filmproduzierenden Ländern – USA und Frankreich – politische und stilistische Veränderungen. In der McCarthy-Ära mit ihren ausgeprägten Gut-Böse-Dichotomien gab es kein Interesse an ambivalenten Helden, an korrupten Polizisten, an sexuell freizügigen Frauen und an der Schilderung amerikanischer Großstädte als einen Ort, in dem Werte und Orientierung verloren gegangen sind. Die dem Film noir oftmals inheränte Gesellschaftskritik passte nicht zur Propaganda des American Way of Life als dem Maß aller Dinge. In Frankreich setzte sich mit der Nouvelle Vague eine experimentelle Leichtigkeit im Erzählstil durch, die trotz einiger Bezugnahmen auf die Schwarze Serie im Großen und Ganzen mit dem Pessimismus des Film noir unvereinbar ist.
Noir ist die düstere Stimmung der Geschichte zumeist in Übereinstimmung mit der Farbgebung des Films. Es ist also dieses Schwarz. Damit ist die Stimmung gemeint, aber noch mehr die sinnliche Erfahrung dieser Farbe. In welch ausgeprägtem Maße die Optik dieser Filme dasjenige ist, was nicht nur ihren Charakter, sondern auch ihren künstlerischen Rang verbürgt, wird deutlich, wenn man sich die Trivialität der oftmals recht mageren literarischen Vorlagen vor Augen hält: Bei der sogenannten Hardboiled-Kriminalliteratur handelt es sich um zumeist stereotype Krimihandlungen, klischeebeladene Männerphantasien, zur flüchtigen Unterhaltung bestimmt, schnell geschrieben, schnell gelesen und schnell vergessen. Dass der Film noir de facto die berühmteste Stilepoche des Tonfilms darstellt, begründet sich weniger in den erzählten Geschichten, weniger in der Bevorzugung bestimmter Handlungsmuster oder den Gesetzmäßigkeiten bestimmter Genres, sondern in dem, was für das Medium am nachdrücklichsten kennzeichnend ist: nämlich in der optischen Umsetzung eben dieser Aspekte. Der entscheidende Punkt am Film noir und an der überwältigenden Wirkung, an der tragischen Schönheit des Schwarzes ist, dass es inhaltlich begründet ist. Das heißt, dass hier die elementare Voraussetzung gelungener Kunst beherzigt wird: Die Entsprechung von Form und Inhalt.
Das Schwarz im Film noir sieht nicht einfach nur schön fotographiert aus, sondern den bisweilen nur begrenzt ambitionierten, gering budgetierten und daher wohltuend unprätentiösen Genreproduktionen gelingt genau das, was man von einem Werk erwartet: Dass es in seiner äußeren Beschaffenheit seinem inneren Anliegen entspricht. Und dieses innere Anliegen ist die Vermittlung von Unsicherheit, von Bedrohung, von Angst. Und eben jene existenzialistische Gestimmtheit findet sich ebenso in amerikanischen Suspense-Krimis wie in den verstörenden Hollywood-Melodramen, die einen Blick in die menschlichen Abgründe werfen, aber eben auch in den zeitgenössischen europäischen Variationen über das soziale Elend oder die Einsamkeit des Einzelnen in der modernen Gesellschaft. Und dass sich die ganze Welt ins Schwarz taucht, dass sich die Filmsprache, der künstlerische Ausdruck des Mediums so sehr verdüstert, dass sich die Filmkunst verdunkelt, dass die Farbe Schwarz so in den Vordergrund tritt, dass die Farbgebung des Films zum dominierenden Element der stilistischen Charakterisierung des Werks wird, dass also die Farbe dominiert: Das hängt mit der Entwicklung der Farbgestaltung des Mediums selbst zusammen. Eben damit, dass es in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts immer leichter und immer billiger möglich war, Filme in Farbe herzustellen.
Genau dieser Umstand, dass die Möglichkeit zur Wahl der farblichen Gestaltung bestand, verlangte in der Folge nach einer inhaltlichen Begründung der Farbästhetik und genau dieser Umstand führt zu der so wichtigen und den künstlerischen Charakter jener Filme verbürgenden Entsprechung von Farbdramaturgie und Handlung. Durch diesen Umstand sind in den Produktionen film- und farbästhetische Akzente gesetzt worden, die den Anforderungen an ein gelungenes Werk genügen, obgleich dessen Erschaffung in vielen Fällen wohl kaum beabsichtigt war, sondern allenfalls ein billiges B-Picture fern höherer künstlerischer Ambitionen. Die Möglichkeit zur Wahl der Farbe verlangt nach einer inhaltlichen Begründung der Farbe, was die Frage nach der ästhetischen Wirkung und Gestaltung der Farbe nach sich zieht und in den besten Fällen schließlich eine Entsprechung von Form und Inhalt bewirkt. So entstehen Filme aus einem Guss; Filme, die den Eindruck des In-sich-geschlossenen vermitteln; Filme, deren Elemente aufeinander abgestimmt erscheinen. Ihre Entstehung verdankt sich somit der aus einer technischen Innovation folgenden Gesetzmäßigkeit der stilistischen Entwicklung des künstlerischen Mediums selbst.
Der historische Hintergrund: Zweiter Weltkrieg
Wenn wegen der Entstehung des Farbfilms bei den Filmemachern eine bewusste Farbwahl stattgefunden hat und der Schwarzweißfilm nun nach einer inhaltlichen Begründung verlangte, was zu düsteren Filmen geführt hat, so erklärt dies noch nicht, warum sie beim Publikum erfolgreich waren. Man muss beim Publikum eine Akzeptanz für diese Düsterkeit voraussetzen, anderenfalls hätte sie sich am Markt nicht durchsetzen können. Auf einmal wurden zahlreiche Filme mit einer pessimistischen Grundstimmung produziert, in einem solchen Ausmaß, dass man davon ausgehen muss, dass dieser Pessimismus, trotz des vor allem bei amerikanischen Genreproduktionen zumeist obligaten Happy Ends, offenbar das gewesen ist, wonach das Publikum verlangte. Nicht nur im poetischen Realismus oder im Neorealismus, nicht nur einigen Autorenfilmern in einer künstlerisch ambitionierten Nische war es auf einmal möglich, pessimistische Filme zu drehen, sondern auch in den großen kommerziellen Studios, die ihre Produktionen nicht an künstlerischen Kriterien, sondern primär an der Profitabilität ausrichten, wurden düstere Geschichten in düsterer Bildsprache erzählt. Auf breiter Ebene gab sich der Film, also das spektakulärste populäre Massenmedium seiner Zeit, dem Pessimismus hin: die auf Gedeih und Verderb dem kommerziellen Erfolg verpflichteten Studios, deren Geschäft darin besteht, unter hohem Aufwand und enormen Investitionen mit Filmproduktionen nicht allein Kunst zu schaffen, sondern – wie bei vergesellschafteter, arbeitsteiliger, technisierter, industrieller Produktion gar nicht anders möglich – Profite einzufahren, muteten ihrem Publikum auf einmal einen desperate Düsterkeit zu. Das hätten sie nicht getan, wenn es beim Publikum nicht ein Verlangen nach einer künstlerischen Verarbeitung düsterer und pessimistischer Stimmungen gegeben hätte. In der Unterhaltungskultur handelt es sich hier um eine der seltenen Phasen, in der die Finsternis die Fröhlichkeit bezwingt. So sehr, dass sich die Unterhaltung auf der ganzen Welt verdunkelt.
Wenn diese Finsternis, dieser Pessimismus eine dem künstlerisch-stilistischen Entwicklungsprozess des Mediums folgende Reaktion der Filmemacher war, wenn es sich also um eine Gesetzmäßigkeit in der Stilentwicklung des künstlerischen Mediums handelt, dann stellt sich dennoch die Frage nach der Entsprechung dieser Gesetzmäßigkeit in den Bedürfnissen des Publikums. Es scheint, als ob dieser Stil das ausspreche, was die Zeit, in der er sich zu seiner Herrschaft aufgeschwungen hat, im Wesentlichen kennzeichnet, nämlich eine Verunsicherung und Verängstigung vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen; ähnlich wie es scheint, dass sein stilistischer Ahn, der expressionistische Film, der von der Schwarzen Serie immer wieder zitiert wird, eine Reaktion auf die verheerende Niederlage des deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg und die darauf folgende wirtschaftliche und politische Krise gewesen ist. Es hat den Anschein, als seien diese pessimistischen Stile Ausprägungen jener Verunsicherungen und Verängstigungen, die die Gesellschaft, verursacht durch die historischen Katastrophen, erfasst haben. Und diese schrecklichen Kriege der Moderne, diese Weltkatastrophen haben offenbar eine besondere Sensibilisierung für jene Stimmungen bewirkt, die wohl auch sonst vorhanden sind, aber nun umso drängender sich bemerkbar machten. Eine existenzialistische Düsterkeit: Einsamkeit, Verzweiflung, Orientierungslosigkeit und Angst. Der kommerzielle Erfolg jener pessimistischen Schwarzweißfilme lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich in der Düsterkeit des Film noir die psychische Verfassung der Weltkriegsgesellschaft spiegelt. Die Welt befindet sich in der schwärzesten und angsterfülltesten Periode ihrer modernen Epoche und es scheint, als ob sie sich in diesen Filmen, in deren düsterer Farbgebung, in der optischen Gestaltung der Filme – den Blick auf sich selbst gibt.
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